Detachement nach Westen
Zwei Situationist*innen spielen Krieg und lernen fürs Leben.
Ein Theorieschnipsel zu Alice Becker-Ho und Guy Debord
Zwei Menschen spielen ein Spiel: Krieg. Krieg auf 500 Feldern. 25 in der Horizontalen, 20 in der Vertikalen. Eine Linie verläuft über dieses Schlachtfeld, sie teilt die Welt in Nord und Süd. Es gibt Gebirgszüge, schematische, geometrische Haken, über die ein schematischer, geometrischer Pass verläuft, Festungen, und in jedem der Reiche zwei Arsenale für Nachschub. Außerdem gibt es zwei Armeen. Ein Losentscheid: Der Norden beginnt die Kriegshandlung, die sich Zug für Zug ausbreitet.
Die Eheleute Alice Becker-Ho und Guy Debord haben sich das Spiel, das sie deutsch „Kriegsspiel” nannten, in den frühen 60ern ausgedacht, der Pionier der Kriegstheorie, der preußische Generalmajor Carl von Clausewitz, ist geistiger Pate. Guy Debord, das heißt eigentlich: Anarchismus, Selbstverwaltung, die Feier temporärer Momente und radikale Kritik des Kapitalismus – mit „Die Gesellschaft des Spektakels“ (1967), das die Freiheit des Individuums durch das Spektakel bedroht sieht, durch die Bilder der Werbung und der Kulturindustrie, die die Gefühle aus dem gelebten Leben verdrängen, erdachte er die theoretische Basis des französischen Mai 1968. Die Situationistische Internationale, in der beide aktiv waren, lieferte dazu Praxis zwischen Kunst, Architektur und Politik.
Und hier also: Siebenjähriger Krieg. Das Spiel der Debords kennt keine Gräben, keine Guerilla und kein Gas, dafür gibt es Artillerie zu Pferde und zu Fuß, Kavallerie und Verbindungstruppen, die die Versorgungslinien neu setzen, wenn der Feind ein Arsenal abgeschnitten hat. Die Armeen stellen die Spieler*innen auf, in diesem Fall entscheiden sich beide für geschlossene Formationen, die aber jeweils ein Arsenal ungeschützt lassen. Der Norden schickt eine schnelle Einheit der Kavallerie auf den Weg dahin. Der Süden übertritt seinerseits in der Ebene des Ostens die Grenze.
Sie manövrieren. Es gibt Scheinzüge und Rückzüge. Der Süden entscheidet sich, Truppen in den Westen zu schicken, zieht sie zurück. Der Norden verstärkt seine linke Flanke massiv und verteilt dann doch wieder seine Truppen gleichmäßig entlang der Front. Beide versuchen, den Gegner zu umklammern. Im 35. Zug öffnet sich für den Süden die Chance, die Armee des Nordens zu teilen, doch er scheut das Risiko.
„Das Kriegsspiel tendiert wie der Krieg selbst und alle Formen des strategischen Denkens und Handelns dahin, jederzeit verschiedene widersprüchliche Notwendigkeiten hervorzubringen, die es abzuwägen gilt“, schreibt Guy Debord 1987 in der Analyse jenes Spiels mit Alice Becker-Ho, „Das Kriegsspiel“. Für jede Operation sind die Mittel unzureichend – in räumlicher wie in zeitlicher Ausdehnung. Zu wenige Truppen, zu langsame Bewegungen. Breite Fronten können Flanken oder das Hinterland des Gegners bedrohen, aber in der Schlacht ist nur das konzentrierte Zusammenspiel vieler Einheiten gewinnbringend. Egal, wie die Spieler*innen sich verhalten, sie verhalten sich falsch. „In diesem Kriegsspiel sind offensichtlich schlechte Aufstellungen und Manöver vielfältig möglich, aber keines der besseren Manöver, zu denen man sich entschließen kann, ist – zumindest so lange, wie es ein bestimmtes Gleichgewicht der Kräfte und Positionen gibt – mit Gewissheit genau das richtige. Es wird dazu oder auch nicht, je nach dem, was der Gegner tut oder nicht tut.“
Der reagierende Gegner, die eigene Konzentration, das eigene Denken über gegnerische Entscheidungen beeinflussen das Spiel ebenso wie die konkreten Züge. Es ist ein dauerhaftes Pendeln von Strategie zu Taktik, von der langfristigen Planung großer Ziele zu kurzfristigen, direkten Entscheidungen im Gefecht. In den klugen Übergängen zwischen beiden Modi liegt das Geheimnis des Sieges.
In diesem Fall ist der Süden vor allem unentschlossen, lässt sich das Spiel interpretieren. Bald verliert er seine Festung im Feindesland, lässt sich von der Massivität einer Bewegung des Nordens zu seiner linken Flanke überraschen und kann sich nur mühsam der Blockade seiner Nachschublinien entziehen. Am Ende stehen 8 Einheiten des Südens 11 Einheiten des Nordens gegenüber. Der Norden hat die Grenze nicht überschritten, als der Süden kapituliert: Ihm bleibt keine Möglichkeit mehr, selbst Initiative zu ergreifen.
Guy Debord, der Anarchist, schreibt 1989 in seinem Buch „Panegyrikus“: „Ich habe die Logik des Krieges studiert. Ich habe ein Spiel gespielt und in dem oft schweren Lauf meines Lebens habe ich ein paar Lektionen daraus gezogen – man muss dem Leben Regeln geben und sie befolgen. Die Überraschungen, die mir mein ‚Kriegsspiel‘ gewährte, sind endlos. Ich fürchte, es wird sich als das einzige meiner Werke herausstellen, aus dem Menschen etwas von Wert ziehen können.“