Wozu gibt es Tränen?
Ich hätte mir das ja auch anders gewünscht, aber ich musste heute zweimal groß, und das ist, was dabei herauskam.
Die sogenannte Eventregisseurin Susanne Kennedy hat ein Stück gemacht, es heißt „Women In Trouble“ und behauptet Dinge, die Susanne Kennedy von anderen sogenannten Eventregisseur*innen oder im Internet geklaut hat. Ein Beispiel: Wenn wir den Körper von allen Organen befreien würden, befreiten wir uns von allen Automatismen. Ein anderes Beispiel: Wenn man an der Wiederholung stirbt, ist es doch wiederum sie, die rettet und heilt. Beides stimmt, und das ist ein Text darüber, warum. Außerdem wünscht er allen, die das nicht so sehen oder die denken, was bei Susanne Kennedy oder Anton Artaud oder Gilles Deleuze oder im Internet passiert, sei ein Event, und deswegen den Saal verlassen haben, bevor sich die 18-Meter-Drehbühne in die andere Richtung gedreht hat, viel Spaß bei der einzigen Sache, die sie da draußen ohne Talent oder Arbeit oder Glück immer erfolgreich zustande kriegen werden: Die Wurst kommt auch ohne euch raus! Quasi: automatisch. Auch morgen wieder und übermorgen und überübermorgen. „Denkt mal drüber nach!“
Folgende Situation: Ich sitze. Nicht pressen, klar, wegen der Hämorrhoiden, ich vermute so was eh schon, aber das Rohr ist voll, so voll, da muss jetzt wirklich mal was raus. Also los! Peristaltik. Routine fahren. Wand. Plumps. Gedanke. Plumps. Gedanke. Endlich denken, Gedankenhäufchen, Haufen, Beethovens Neunte, mein Debütroman! Ein Oscar möglich, wenn ich gleich noch duschen gehe. Obendrüber: Spülung. Untendrunter: Spülung. Und wer nicht drückt oder spült, kauft Ohrstäbchen im dm. Wahrscheinlich, oder Tempos oder Clearasil oder Antischuppenshampoo, nee, wie heißt das gleich: Head & Shoulders. Aber das beste gibt’s bei Lidl, fragt doch diese Stiftung! „Nur 50 Cent pro 100 Milliliter — überraschend!“ Probier ich das mal, ganz schön viel tote Haut auf dem Kopf in letzter Zeit, wird ja peinlich, immer dieser Schnee. Und Bepanthen — mir juckt’s am Po. Fußnägel sind auch mal wieder fällig, eingewachsener Überschuss. Verdammte Scheiße, wo hängt’s denn nun? Gleich sieben und die Klinke geht, weil’s bei wem anders drückt oder juckt oder schneit. 7,47 Milliarden Kackexistenzen. I’m just like you / Sideturned and ripped as shit again. Platsch, na endlich, kann’s ja weitergehen. Ein Moment totaler Leere. Alles schön wegputzen noch, schon evolviert es wieder: Leben in Schleifen, Neues aus dem Nichts. Jeden Tag mein kleiner Urknall. Die Frage ist doch: Wozu gibt es Tränen?
Es ist ja so: Ich halte mich für den Orgasmus der Schöpfung, weil ich alternative Fakten und Tampons erfunden habe, aber eigentlich bin ich seit 30 Jahren busy doing nothing damit, zu vertuschen, dass ich in einer Tour vor mich hin schimmele. Schnäuzen, pulen, waschen, wischen, wegraspeln, -schneiden, -schmieren, -hobeln und verpfropfen, reinemachen eben, Explosionen verhindern, Sodbrennen, Krampfmagen, Symptome dauerhafter Unterdrückung, ein Königreich für einen Furz! Daran gibt’s nichts umzudeuten: Die Schleusen sind offen. Schön ist das nicht, aber wisst ihr was? Versucht mal geradeaus zu denken, wenn das alles drin bleibt. Kennt nun auch jede*r, tut doch nicht so! Ist nur schnell vergessen, sobald es wieder rutscht. Memo: Geburt. Es gibt ja keine dummen Fragen, also: Wozu all die Scheiße?
Ich bin eine toxische Deponie und der verdammte Q-Tip wird mich nicht retten!
Sein. Das ist wie Schwerkraft oder Geburtstage. Man möchte das ja gar nicht, aber es ist immer da, es kommt ja immer wieder, da kann man das Telefon auf Flugmodus stellen oder das Brot auf beiden Seiten mit Marmelade beschmieren. Am Ende drückt’s eben. Und das ist gut so, wahrscheinlich macht das Sinn. Denn in Wahrheit liegt die Sache doch andersherum: Leben ist, was nebenbei abfällt. Das Gros bleibt Spurenbeseitigung und das heißt nicht: einmal am Tag Porencheck. Das heißt: Ich bin eine toxische Deponie und der verdammte Q-Tip wird mich nicht retten! Aber: Wer — denn — dann —? My body is a weapon. Und alles, was mir einfällt, wenn die Müllabfuhr im Meeting anklopft: Voll überflüssig jetze. Anstatt mir endlich mal mehr Ballaststoffe reinzuleiern, nicht für mich natürlich, sondern aus Anerkennung: danke, Darm, du zotteliger Nichtsnutz! Ohne dich wäre ich zum Scheißen zu dumm.
Vielleicht sollten wir endlich sterben, damit unser Körper Urlaub hat, dieser Leistungsträger, diese Fackel im Wind. Nicht wir müssen uns von den Organen befreien, sondern die Organe von uns. Weil das hier keine Symbiose ist, weil wir hier die Parasiten sind und sie nicht anders können: diese Zwangsarbeiter der effektivsten aller Irrelevanzproduktionsmaschinen. Keine Schichten, kein Tarifvertrag. Sie retten uns permanent den Arsch und bekommen nichts zurück als noch mehr Pulled Pork in die Fresse. Das volle Programm an Beziehungs-Kack-Moves eben von Ignoranz bis unverhohlenem Hass. Aber es gibt diesen letzten gütigen Ort, an dem sie die Beachtung kriegen, die ihnen gebührt: www.wasistwas.de.
„Was passiert, wenn wir ein Stück Brot essen?“, fragt Julia, 6 Jahre, und die geklaute Antwort aus dem Internet lautet: „Bei der Verdauung wird die Nahrung in ihre Bestandteile zerlegt, also Nährstoffe von Abfallprodukten getrennt. Die Nährstoffe werden über das Blut wieder dem Körper zugeführt, die Abfallprodukte werden als Kot oder Urin ausgeschieden.“ Jetzt abstrahiert das mal und packt es auf eine Drehbühne und die Hütte wird voll sein und es wird hart werden und viele müssen den Saal verlassen, weil sie nicht mehr klarkommen mit alternativlosen Fakten: Automatismus, Wiederholung, Retten, Heilen. Selbsterhaltung letztlich von den Splissspitzen bis zur Hornhacke, nun lasst uns endlich Medaillen verteilen: Nägel? Nervenschutz. Haare? Heizung, Fusselrolle, zwischenmenschliche — zwinker — Kommunikation — zwinker. Schweiß? Klimaanlage, Immunabwehr, Sexsymbol. Pickel? Staubsaugerbeutel. Popel? Echt jetzt? Talg? Sauna. Kotze? Entgiftung. Lymphe? Unbezahlbar. Ohrenschmalz? Feuchttuch, Bakterienkiller, Katharsis. Noch nicht genug der Poesie? Tränen. Tränen. Tränen.
In Wahrheit liegt die Sache doch andersherum: Leben ist, was nebenbei abfällt. Das Gros bleibt Spurenbeseitigung.
Was ich sagen möchte: Es gibt Events. Den Row-bot zum Beispiel, der in seinem Käfig im Bristol Robotics Laboratory herumfährt und Lulu trinkt, um daraus Energie zu erzeugen — für die Toiletten beim Glastonbury Festival und bald für Latrinen in Flüchtlingsheimen. Oder diese Kläranlage in Chicago, Stickney Water Reclamation Plant, die größte wohl überhaupt, ein Milliardenprojekt mit über 400 Mitarbeiter*innen, die in einer Minute mehr Abwasser reinigt als in zwei olympische Schwimmbecken passt. Und es gibt den Körper.