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Wasser zu Wasser

Im Angesicht der Apokalypse scheint es nur zwei Reaktionen zu geben: Panik oder Apathie. Donna Haraway umkreist eine ganz andere Option: unruhig bleiben. Wie könnte eine poststrategische Zukunft aussehen? Wie gesellschaftliche Zusammenschlüsse, die nicht auf Planung setzen? Ein chaotischer Text über die Lavalampen der Meere — Quallen.

Gestrandete Quallen verdunsten beinahe vollständig. Sie bestehen zu 95 Prozent aus organisiertem Wasser. Die Art der Turritopsis dohrnii ist potenziell unsterblich. Sie kann sich durch Umwandlung ihrer Zellen wieder zu einem Keim zurückentwickeln und so ihren gesamten Lebenszyklus immer und immer wieder durchleben. Sie können, wenn sie wollen, in schon verlebte Formen fallen.

Quallen sind keine eigenständige Art, sondern nur ein Lebensstadium von diversen Nesseltieren, die in komplexen Zyklen von Planulalarven, Polypen und Medusen den Lauf der Zeit verbringen; als Medusen treiben sie ohne Bewusstsein in den gigantischen Tiefen des Ozeans, ohne Plan, dass auf der anderen Seite der Trennlinie des Wassers sich ein Universum ausdehnt, das in Millionen von Trilliarden Jahren wahrscheinlich an einem extrem langweiligen Hitzetod sterben wird.

Die Wirbellosen sind mächtige Kritter. Die Tentakel der Cyanea capillata — die Lion’s Mane — können länger als die größten Blauwale werden. 97 Prozent der Lebensformen auf der Erde haben keine Wirbelsäule, wie Glasschwämme, Teichnapfschnecken, Portugiesische Galeeren, Faden-, Schlauch- und Spritzwürmer, Troglederkorallen, Urmünder, Stachelhäuter, Kiemenlochtiere, Aplousobranchia (nicht gefaltete Kiemendarme) oder Seestachelbeeren.

Einige Wirbellose entwickeln Symmetrien, einige andere wuchern in fantastischen Formen. Der Mammutjäger entwickelte eine aufrechte Haltung, um der Welt zu trotzen, um mit dem Speer das Tier zu erlegen, zu prahlen, Geschichten darüber zu schreiben und die Welt auf einen linearen Konflikt zwischen der Speerspitze und Fleisch zu reduzieren, wie Ursula K. Le Guin in „The Carrier Bag Theory of Fiction“ schreibt. Die Wirbel des Mammutjägers wuchern zum Himmel, der so lange ganz Projektionsfläche seiner Geschichten wurde, bis der Himmel zerbarst. Das ist das Anthropozän.

Einige Taxa der Wirbellosen haben mehr Spezies als die Gesamtheit der Wirbeltiere.

Das Wasser zwingt den Oktopoden dazu, immer in Bewegung zu bleiben. Die Strömungen erfassen jedes Atom. Es gibt keine scheinbare Ruhe wie an Land. Die Bodenhaftung täuscht dich. Unterzutauchen heißt, dich den Gewalten ausliefern. Tonnen aus Dunkelheit, Seemonster, Unterseevulkane und dazwischen: umherdriftende Fischembryonen, die — ohne je zu schlüpfen — einsam zum Grund des Meeres sinken, wo ihr Aufprall lediglich ein winzig kleines, kaum messbares Geräusch erzeugt.

Das Wasser zwingt den Oktopoden dazu, immer in Bewegung zu bleiben. Die Strömungen erfassen jedes Atom. Es gibt keine scheinbare Ruhe wie an Land. Die Bodenhaftung täuscht dich.

Die Muschel hält sich mit einem kleinen Fuß fest, um der Strömung zu trotzen. Und in ihrem kleinen Mund trägt die Muschel eine Milliarden Jahre alte Wahrheit in sich: Wir sind nie alleine.

Die „kleinwüchsige Frau in hochhackigen Schuhen“, schreibt Alexander Kluge in der „Chronik der Gefühle“, die gleich die Tosca singen wird, spürt unter all den komplexen Gefühlen der Opernrolle ein Gefühl hervorstechen: „DU FÄLLST GLEICH HIN.“

Dieses Gefühl der kleinwüchsigen Frau in hochhackigen Schuhen ist verwachsen in ihrer Ahnenfolge: Irgendwo sind da noch Teile des mehrzelligen Glibbers, der sich nach den perfekten 37 °C der Urmeere zurücksehnt, und von den ersten Reptilien, die zum ersten Mal eine Unterscheidung von oben und unten vollziehen konnten und damit erst die Sensation des Fallens ermöglichten.
„Das zu unterscheiden und Sehnsucht zu haben: das ist das, was die Gefühle können. Alles andere ist Kombination“, schreibt Kluge.

Das können selbst die Atome. Nach dem russischen Panpsychist Konstantin Ziolkowski stirbt nichts und endet nichts, weil selbst die Atome fühlen, aber ihr Grad an Emotionalität gegen null strebt. Die toten Seinsmassen sind sensible Materie.

Ziolkowski schreibt: „Alles ist ununterbrochen und alles ist eins.“
Haraway sagt: „Niemand lebt überall; jeder lebt irgendwo. Nichts ist mit allem verbunden; alles ist mit etwas verbunden.“
Le Guin sagt: „Geschichten als Taschen denken, nicht als Speere.“
Eine Tasche voller Gewusel.
Die Evolution ist kein souveräner Akt, sondern Sympoiesis — ein Miteinander-Machen.

Zukunft ohne Wirbel

Im Bienen-Ragwurz finden wir das Abbild einer längst ausgestorbenen Bienenart, deren Begehren, sich zu paaren, die Orchidee auffing und bis heute festhält. Jetzt bestäubt sich die Orchidee selbst, denn die Biene ist ausgestorben; die Mimikry ihres Begehrens lebt aber weiter. Das ist die Schönheit und Tragik des Wuselns.

Das Anthropozän ist eine Projektion in die Erdschichten der Zerstörung, voller Angst und Apokalypse. Das Anthropozän ist eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Denken wir nicht im Anthropozän, sagt Donna J. Haraway, sondern im Chthuluzän — eine „dichte und andauernde Gegenwart, mit Zellfäden durchzogen, die alle möglichen Zeitlichkeiten und Stofflichkeiten durchdringen.“ Nicht Cthulhu wie beim superrassistischen Lovecraft, sondern wie in: Chthonismus, der Glaube an die beseelte Erde — synthetische Gottheiten aus Erde, Pflanzen und Krittern. Denken wir im Glibber der Muscheln und den Fäden der Medusa in eine Zukunft ohne Wirbel.

Weg vom Speerflug denken, hin zum Beutel, der all das Gewusel der Welt in sich birgt, die präferierte Form des Erzählens für Le Guin. Ihre Science-Fiction ist Beutel für die Vielzahl der erdlichen Geschichten fernab der brachialen Mammutjäger und ihrer Heldensagen.

Haraway schreibt: „In dringlichen Zeiten ist es für viele verlockend, der Unruhe zu begegnen, indem sie eine imaginierte Zukunft in Sicherheit bringen. Dafür versuchen sie, am Zukunftshorizont Drohendes zu verhindern, aber auch Gegenwart und Vergangenheit beiseitezuräumen, um so für kommende Generationen Zukunft zu ermöglichen. Unruhig bleiben erfordert aber gerade nicht eine Beziehung zu jenen Zeiten, die wir Zukunft nennen.“

Denken wir im Glibber der Muscheln und den Fäden der Medusa in eine Zukunft ohne Wirbel.

Das Anthropozän ist die Antwort auf eine Krise. Ein Problem, eine Lösung, ein Speer. Aber warum erst im Angesicht der ultimativen Auslöschung reagieren und die eigene Bequemlichkeit überwinden? Lieber immer in Bewegung bleiben — Unruhe stiften — die Unsicherheit lieben lernen.

Leben und Sterben und Leben und Sterben und Leben

Die Gefahr ist, sich dem Fatalismus zu ergeben, weil wir den Point of no Return vielleicht schon längst überschritten haben und die Welt nicht mehr zu retten ist. Die Idee des Point of no Return ist aber sinnlos, wenn es gar keinen Point of Return gibt, keinen Zustand, der heil ist (als könnte man die Welt reparieren!), oder als wäre die Natur der Ursprung absoluter Harmonie und nicht ein endlos chaotisches System von Leben und Sterben und Leben und Sterben und Leben.

Anstatt den Problemen mit Strategien und Plänen entgegenzutreten, die Probleme verinnerlichen — und anfangen, wirklich gegenwärtig zu sein in der Verflechtung aller sterblichen (und unsterblichen) Krittern. Hören wir auf, in politischer Ökonomie und zweckorientiertem Individualismus zu denken — schauen wir auf die Quallen in den Gezeiten. Lang lebe das Zeitalter der Qualle, das Cnidariazän!

Die neue Verwobtheit der Kritter

Die Lion’s Mane frisst kleine Quallen, die sich in ihren Tentakeln verheddern, und Seeanemonen wiederum fressen die gesamte 40-Meter-Qualle, wenn diese sich denn einmal in den vielen kleinen Mündern der Anemone (die auch zugleich ihre Ani sind) verheddert. Die Qualle muss immer in Bewegung bleiben.

Die Gegenwart ist unbarmherzig ongoing und das Anthropozän wohl eine Zeit der Diskontinuitäten — die schwer zu schluckende Erkenntnis, dass Dinge zu Ende gehen, dass die Zufluchtsorte auf der Welt für alle Wesen dieses Planeten schwinden können. Wir sind alle gerade dabei, das zu lernen.
Das Anthropozän ist aber kein Zeitalter wie das Pleistozän, sondern eine Schnittstelle zu der noch kommenden Zeit: dem Chthuluzän — der neuen Verwobenheit aller Kritter auf diesem Planeten.