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Volle Fahrt voraus

Reizüberflutung, ist das nicht voll 00er Jahre? Unser Autor sinniert über seine Anfälligkeit für die Beiläufigkeiten des Alltags.

„Okay, gleich bringe ich mich um und dann bin ich mausetot“ hat wohl jede*r von uns schon mal gedacht. Dabei sind wir ja gar nicht lebensmüde, sondern stehen nur mal wieder am Gleis der einfahrenden U-Bahn. Oder alternativ: auf einer Anhöhe. Der Gedanke, jetzt gleich zu springen, kommt meist automatisch. Wir interpretieren das als Todeswunsch und gehen damit einem großen Missverständnis auf den Leim. Die Angst, die sich durch die plötzliche Möglichkeit des Sprungs in uns auftut, schützt uns tatsächlich. Unser Kopf spielt im Kopf das Gefahrenprogramm einmal ab, damit wir es, das Springen, eben nicht tun wollen. Wie es eine amerikanische Studie sagt: „Der Drang zu springen ist der Beweis für den Drang zu leben“.

Ich selbst stehe seit einiger Zeit fast täglich an einem U-Bahn-Gleis, hoch oben auf einem Berg.

Nachdem mich eine Herzerkrankung für einige Monate außer Gefecht gesetzt hatte, ich Krankenhäuser besuchte und täglich Tabletten nahm, die mich für ihre Sicherheit depressiv und matt machten, konnte mir ein bewanderter Rhythmologe schlussendlich helfen. Als junger Typ war diese Zeit das erste Mal, dass ich mich total hilflos fühlte. Und auch wenn ich heute frei von Medikamenten bin, reicht es aus, dass ich die eigenen Hemdknöpfe bei einer Bewegung auf meiner Brust spüre. Oder ich in einem Raum voller Menschen sitze. Ein Bein beginnt zu kribbeln, das Herz springt wild gegen die Brustinnenwand, aus Konzentration wird sich schneller und schneller einschleifende Hektik, und plötzlich ist da dieser Gedanke, nicht mehr richtig sprechen zu können. Was sich hier eins zu eins wie echte Symptome eines Schlaganfalls anfühlt, ist nichts anderes als das, was vor der einfahrenden U-Bahn passiert.

Die Angst vor der Angst vor Herz-Kreislauf-Versagen hat sich während der Operationen eingebrannt. Weil ich mich schützen möchte, fahren meine Nerven bei der kleinsten Berührung das Sicherheitsprogramm ab. Hypersensibilität, also wenn die Parameter der eigenen Sensorik außer Kontrolle geraten sind, ist heute ein reelles Problem. Wer darunter leidet, merkt, welche Filter man für sich und den Körper generell schon etabliert hat. Denn über unsere Umwelt erreichen unsere Körper so viele und so komplexe Informationen, dass wir sie in ihrer Gänze nicht handhaben könnten, wenn wir nicht so viel ausblenden würden.

Reizüberflutung war wohl das entscheidende Wort der 00er Jahre. Auf einmal waren alle Hintergrundbeleuchtungen an — in der Hand lag das Smartphone, während um einen herum Meinungen pluralisiert und die Spotify-Musikklick-Möglichkeiten endlos erschienen. Byung Chul-Han wurde zum Denker der Wahl für Zeitgeist-Pessimist*innen, die in dem andauernd vibrierendem Brimborium der neuen Arbeits- und Lebenswelt zu viel Anschluss empfanden. Dabei waren sie ja immer schon da, die Informationen. Nur eben nicht pushbenachrichtigt, kommentierbar oder im Abo verfügbar.

Was mir hilft, ist nicht das Abbremsen, die Entschleunigung, das Zurückzucken und Ausharren, sondern die volle Fahrt voraus. Gefühle zulassen, so irreal dämlich sie auch erscheinen mögen. Was ich gelernt habe: Irrelevanz schadet nicht, sondern macht einen riesengroßen Teil von uns aus. Ohne sie wären wir nicht in der Lage, hier zu sein.