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Vögel sind auch nur Menschen

Menschen, die Gespenster rufen, haben Konjunktur. In Kassel, auf Astro TV und im Amazonas.

Ein Theorieschnipsel zu Philippe Descola von Nicolas Oxen.

Schaman*innen sind beliebt wie nie. Gerade in unserer durch den Fortschritt entzauberten Welt trifft Schamanismus als eines der ältesten religiösen und übernatürlichen Phänomene den Geist der Zeit. Die Kraft der Meere, den Mondzauber oder die Kraft der Naturgeister zu nutzen, kann sich in sogenannten schamanistischen Ausbildungen mittlerweile jeder sinnsehnsüchtige Mitteleuropäer in einem Wald nahe Kassel oder Frankfurt vermitteln lassen.

Die Lehrmethode sei „sehr praxisorientiert“, versichern im Internet selbsternannte Schaman*innen, die sich auch ganz sachlich als „Lehrbeauftragte“ bezeichnen, mit über 20 Jahren Erfahrung. Man legt dabei „viel Gewicht auf den Umgang mit den Geistern“. Eine Garantie für den Erfolg im übersinnlichen Handwerk gibt es nicht, denn die „Geister“ seien die wahren Lehrer und ihre Beratung „individuell, persönlich“, aber „ohne Zertifikat“.

Das „Schamanismus-Basis-Seminar“ gibt sich erstmal mit dem Kontakt zu einer „nichtalltäglichen Realität“ zufrieden. Kurz und bündig ist das wahrscheinlich auch die Basisdefinition für die so alte wie ewige Anziehungskraft des Übernatürlichen und der sehnsüchtigen Suche nach einem Sinn, der nie ganz klar und sichtbar wird.

Die tiefere Idee hinter dieser Schnitzeljagd ist jedoch weit weniger banal, als sie sich ausgibt. Sie bewegt sich entlang einer uralten Unterscheidung zwischen natürlicher und übernatürlicher Welt — und ihrer Geheimnisse. Das Übernatürliche markiert die Grenze der Natur. Es ist das, was über die Realität hinausgeht, oder das, was ihr zu Grunde liegt. Woher kommt die Welt, die uns so alltäglich selbstverständlich umgibt? Warum sind wir hier und wohin gehen wir? Solche Sinnfragen werden auf einer Großbaustelle des abendländischen Denkens bearbeitet, die den Namen „Metaphysik“ trägt. Sie interessiert, was hinter oder jenseits (metá) der Natur (physis) liegt.

Das Nachdenken über die Welt und den Grund der menschlichen Existenz findet seinen Ausdruck in unserer Kultur. Sie ist die dünne Schicht Sinn über der rohen Realität, die uns umgibt.

Das Übernatürliche setzt Natur und Kultur in ein Spannungsverhältnis, und das metaphysische Denken und Fragen beschäftigt sich immer wieder von Neuem damit, ob es einen Gott gibt oder wenigstens Geister. Ob die Toten wiederauferstehen oder ob Steine und Sterne magische Kräfte besitzen. So ein Denken gilt im besten zivilisatorischen Sinne als unmodern und stößt bei AstroTV vielleicht noch eher auf Gegenliebe als an der Universität.

Für die Achuar, ein indigenes Volk aus Amazonien, ist die Ablehnung des Übernatürlichen nicht so selbstverständlich wie für die gemeinen Mitteleuropäer*innen. Sie fühlen sich nicht als Menschen, die durch Kultur eine fremde und feindliche Natur beherrschbar machen. Statt entlang der Trennung von Natur und Kultur denken sie in Analogien.

Vögel sind für sie auch nur Menschen, die als Mann und Frau zusammenleben, ihr Leben in einer festen Gemeinschaft führen und dafür Pläne und Ziele haben. Aber auch Pflanzen und Steine haben für die Achuar eine Seele, die wir in unserem Denken einzig dem Menschen und vielleicht noch Tieren vorbehalten würden.

Für die Achuar zählen sozusagen innere, abstrakte Werte. Ob Mensch oder Vogel, beide sind Teile einer großen Seele. Alle Unterschiede sind bloße Äußerlichkeiten. Finger und Federn sind nur unterschiedliche Formen und Ausformungen des einen großen Geistes.