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Ride The Snake

Ticker, Twitter und der Fetisch der Linie.

München, 1981. Trafen sich zwei, sprach die Frau: „Das sag ich Ihnen gleich, im Fall, dass Sie mich ansprechen wollen, da brauchen Sie sich gar net anstrengen, weil bei mir geht nix.“ — „Ja aber Fräulein, man sagt doch, a bisserl was geht immer“, antwortet der Mann, MONACO FRANZE, DER EWIGE STENZ in der gleichnamigen Kultserie. Zehn Folgen lang wird er es versuchen und er wird Recht behalten — a bisserl was geht immer im München der 80er-Jahre.

Amerika, 1910er-Jahre. Offenbar war Monaco Franze nie an der Börse gewesen, hatte sich nie der Spekulation hingegeben, nie das Fieber der Märkte gespürt. Hätte er es getan, er hätte die Frauen vergessen und wäre Broker geworden. Dort, unter Spekulanten, hätte er die Tragweite seiner Maxime erkannt, ihre tiefere Bedeutung ausgeschöpft. So wie der Broker auf einer alten amerikanischen Postkarte. Im linken Arm die Frau, zur Rechten ein Börsenticker, auf dessen Band er die frisch gedruckten Kurse studiert. „I’m getting my share“, denkt er sich, und nicht um Liebesanteile geht es hier. Er träumt von Unternehmensanteilen, von values und futures.

Verlassen wir nun Monaco Franze und kehren auch für einen Moment unserer Gegenwart den Rücken — sie wird uns früh genug wieder einholen. Denn was sind die Prachtstraßen Münchens, die immer neue Liebesabenteuer bescheren, verglichen mit dem endlosen Strom der Kurse und News, mit denen der Ticker den Reichtum der Welt in die Hände jener leitet, die zuzugreifen verstehen. Also lassen wir uns mit dem Band davon treiben, hinab in seine Geschichte. Folgen wir dieser sich schlängelnden Linie.

Follow the snake.

DER BÖRSENTICKER

Der Börsenticker ist ein Verbreitungsmedium. Er hat die gleichermaßen aufwändige wie simple Aufgabe, Börsenkurse zu liefern — für alle und überall. Demokratisch und ortsungebunden laden seine auf- und absteigenden Zahlenkolonnen ein, sich am Markt zu beteiligen. 1867 wurde das Gerät von Edward Augustin Calahan erfunden und später vom großen Thomas Alva Edison für einen lächerlich hohen Aufpreis verfeinert. Die Einführung des Tickers und seine schnelle Durchsetzung versprachen das Handeln am Markt transparenter, effizienter und rationaler zu gestalten. Sein Name stammte indes nicht von seinen Erfindern. Und er war auch nicht nach seiner Funktion als Medium der Finanzkommunikation benannt. Der Börsenticker erhielt seine Bezeichnung von der Masse der begeisterten Spekulanten, die ihn kumpelhaft nach seinem charakteristischen Eigenlärm tauften: dem steten Ticken, mit dem die neuesten Kurse auf das Tickertape gedruckt wurden.

Der Ticker veränderte die Vorstellungen von Zeit, Raum und Kommunikation.

Das Geräusch gleicht — nicht nur dem Namen nach — dem kontinuierlichen Ticken der Uhr, mit der der*die Kursschreiber*in einen Traum von Präzision und Fortschritt teilt. Man feierte ihn als die größte Medienrevolution seit der Einführung der Eisenbahn. Und die globale Beschleunigung der Zahlen- und Aktienverteilung nahm ihren Lauf. Interessant ist nun aber nicht die Quantität, mit der es schneller und weiter ging, sondern die Qualität: Der Ticker veränderte die Vorstellungen von Zeit, Raum und Kommunikation. Aus ihm erwuchsen neue Erwartungen, Wünsche und Ängste. Darum war der Börsenticker stets mehr als ein bloßes Ding der Ökonomie, er war das Symbol des Kapitalismus und Projektionsfläche seiner Sehnsüchte und Abgründe.

Der Ticker wurde populär und die Spekulation spektakulär. Dabei beruht er auf einem Prinzip, das uns
noch heute beschäftigt — in einer Zeit, in der sich das Wort Ticker längst von dem alten Ding aus Holz, Metall und Glas gelöst hat und ausgewandert ist: erst ins Fernsehen, dann ins digitale Netz, in unsere Sprache und in unser Denken. Um dieser Verwandlung auf die Spur zu kommen, müssen wir den Ticker zunächst verstehen, müssen sein Band befühlen und seinem Rhythmus lauschen. „Wie geht’s?“, fragen wir das geschäftige Ding: „Es gehtt, es gehtt“, antwortet er, „es hörtt nicht auf. Es drucktt und drucktt. Die Zahlen sind Mengen und Wertte, Kolonnen und Reihen, immer frisch, immer anders. Die Buchsttaben, das sind die Namen. Das ändertt sich, das gehtt dahin. Ich ordne die Zeichen, ich ordne die Weltt, nach und nach, immerfortt.“

GLEICHZEITIG KONTINUIERLICH

Der Ticker faszinierte durch seine unglaubliche Aktualität. Kurse und Neuigkeiten wurden kompakt und schnell reproduziert und verbreitet. Sein Anschluss an das Telegraphennetz machte ihn zum wichtigsten Boten für Zahlen und Daten. Der*die Tickerleser*in empfing das Neue auf dem Band nahezu in Echtzeit (um 1900 innerhalb weniger Minuten). Diese extreme Präsenzerfahrung — des Jetzt — verbindet der Ticker mit seiner Fähigkeit zur Kontinuität — des Gleich. Kontinuierlich aktualisiert er sich selbst und setzt die Gegenwart immer weiter fort. Auf seinem Band reihen sich aktuelle Ereignisse aneinander und verschmelzen zu einer unendlichen Fortsetzung. Dabei wird die eben noch als Neuigkeit gefeierte Zahl schon mit der nächsten überflüssig. Jeder Zentimeter Tape ist eigentlich nur ein Verweis auf den folgenden.

Der Ticker kennt keine Vergangenheit, geht völlig auf im Jetzt-und-Gleich.

Der Ticker macht uns das Versprechen, dass wir an der absoluten Gegenwart teilnehmen und dass dieses Jetzt sich kontinuierlich erneuert — vielleicht sogar für immer andauert. Vergleichbare Präsenzmaschinen waren zuvor die Zeitung, die Nachrichten lieferte, und später das Fernsehen, das live berichtete. Heute ist das Internet eine solche Maschine, in der — um nur das prägnanteste Beispiel zu nennen — alles sofort getwittert werden kann. In dieser zunächst noch einfachen Reihe ist der Ticker nur ein einzelnes Glied, allerdings auch ein besonders exemplarisches. Denn Echtzeit und Kontinuität prägen die Arbeitsweise des Tickers auf zeitlicher Ebene in besonderer Weise. Eine erste Vermutung: Der Ticker kennt keine Vergangenheit, geht völlig auf im Jetzt-und-Gleich. Das Tickertape wird dabei wie das gesprochene Wort nicht gespeichert, sondern gleitet durch die Hände und sofort in den Papierkorb, der es aufnimmt, bevor es am Abend dann endgültig weggeworfen wird.

DAS TICKERTAPE

Die Zeit, die der Ticker verarbeitet, erscheint abstrakt, ist aber hörbar und vor allem sichtbar: am Tickertape. Wegen der Anordnung seiner Zeichen in Reihe ist es lang und dünn. Es ist magisch und rätselhaft für Fremde und umso schlüssiger und herausfordernder für Eingeweihte. Der Umgang mit dieser Maschine, sie zu kennen, das ist Aufgabe, Ziel und wieder: der Rausch.

Die ganze Aufregung um den Ticker, so möchte ich behaupten, begründet sich in seiner linearen Arbeitsweise. Die Spannung, die alle Menschen um ihn ergreift, liegt in der stetigen Erwartung des nächsten Tickens, der nächsten Zahl. Mit der Aneinanderreihung aktueller Ereignisse erschafft das Gerät eine kontinuierliche Linie in der Zeit. Wer mit dem Ticker arbeitet, gewinnt die Vorstellung, Welt und Leben seien eine einzige Schnur im Raum, die wir nur so gleich fühlen müssten, wie der Broker das Band fühlt, mit fester Hand und gleichzeitig mit eindringlich sanften Fingerspitzen, die nach den Untiefen des Marktes tasten.

So schlägt im Ticker nicht nur das Herz der Wall Street, sondern der ganzen Welt.

Wer das Band — und so den Fluss der Zeit — verstehen will, muss mit beiden Händen zugreifen, die straffe Linie herstellen und den Blick schärfen. Denn die Linie ist nur so gespannt wie die Aufmerksamkeit, die darauf fällt. Von jeder Emotion befreit, spiegelt sich in den abstrakten Zahlenreihen die kalkulierende und formalisierende Vernunft der kühlen Börsenakrobaten. Sie sind die Seiltänzer des Kapitals, je straffer das Tape, desto mehr wird getanzt auf dem Börsenparkett. Spannung und Anspannung, Hausse und Baisse, Bulle und Bär, hoch und runter — auf einem losen Seil lässt sich nur schwer über dem Abgrund balancieren. Nur das stramme Band ist die gute Linie.

So schlägt im Ticker nicht nur das Herz der Wall Street, sondern der ganzen Welt. Alle großen politischen und sozialen Ereignisse kehren unmittelbar im Tape wieder. Der Broker fühlt am laufenden Band den Puls der Welt und spekuliert damit. Er ist überall dabei, erfährt alles sofort, gleichzeitig, auf einmal. Konzentriert aufs Tape blickend, verspannen sich seine Gedanken im aktuellen Weltgeschehen.

DAS TICKERFIEBER

Die symbiotische Verbindung mit dem Aktualitätsautomaten mag dem Broker zu Kopf steigen. Dann befällt sie ihn, die Tickeritis. Es ereilt ihn das Tickerfieber. Ein Börsenpsychologe verglich 1926 die hypnotische Wirkung des Tickerbandes mit dem Blick hinab auf die Niagarafälle, wenn die nicht enden wollenden Wasserströme in die Tiefe stürzen und einen hinunterzuziehen drohen. Auch das Tickertape verführt, es zieht in seinen Bann, verwickelt den Betrachter in endlose papierne Bahnen. Doch so weit darf es nicht kommen. Der Strudel ist die schlechte, sich verknotende und verzweigende Linie.

Die Diener des Bandes entwickelten einen market instinct, sie konnten vom Jetzt auf das Gleich schließen. Der gute Spekulant erspürt die Zukunft des Marktes an der Gegenwart des Bandes, als wäre die nächste Zahl schon da, als hätte der Instinkt des Lesers den Ticker überholt. Die Spekulation auf diese Zukunft ist seine Rendite.

„When a Tape Reader has his emotions well in hand, he will play as though the game were dominos.”

Das Tape-Reading wurde zu einer Spezialdisziplin, die man mit Ratgeberliteratur einüben musste. Und der Ratgeber riet: „When a Tape Reader has his emotions well in hand, he will play as though the game were dominos.” Einmal angefangen, ist das Spiel nicht zu stoppen, dann läuft die Linie, setzt sich fort und bringt sich aus sich selbst hervor; ein nicht abreißender Strom, die unabwendbare Linearität.

Der Ratgeber forderte die absolute Konzentration auf das Band, auf die straffe Linie zwischen den Händen und riet ab von der Verschriftlichung der Kurse in Tabellen oder Texten, dies wäre dem Band nicht gemäß und verzerre die unmittelbare Kraft des Tickers. Offensichtlich ist die Linie des Bandes also die bestimmende Form, mit ihr müssen wir uns näher beschäftigen.

DER FETISCH DER LINIE

Die Linie gibt sich als die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten. Sie ist das Paradigma der Effizienz, aerodynamisch wie der Pfeil. In den zwei Dimensionen der Ökonomie verbindet sie das Spiel von Angebot und Nachfrage, von Preis und Leistung. Das Tickertape war lange Zeit eine magische Ikone der Broker. Der Ethnologe Claude Lévi-Strauss studierte über Jahre brasilianische Naturvölker, um ihre „Fetische”, die Verbindung von banalen Gegenständen und okkulten Geistern, zu verstehen. Hätte er je einen Ticker gesehen, hätte er sich diese Reise sparen können.

Der Ticker spuckt abstrahierte, fast mythische Ereignisse und Tendenzen aus, die den Spekulanten als Orakel dienen. Dabei spricht aus dem dünnen Tickertape der dicke Onkel Kapitalismus. Er weist steil nach oben oder nach unten, doch immer geht es weiter, entlang der Linie. Nun ist dieser Fetisch der Linie ein Kampfplatz. Er ist vorherrschend, aber er ist nicht allein.

Der Spekulant, der es wagt, sich mit dem Ticker einzulassen, verliert sich schnell in den Windungen und Schleifen der kontinuierlich nachproduzierten Linie.

Das abstrakte Auf und Ab der Börsenkurse erscheint so undurchsichtig wie unbegreiflich. Früh schon wurde es an Wandtafeln in einem Kursverlauf verbildlicht. Noch heute kennen wir diese Tafeln, wenn auch digitalisiert, vom Parketthandel an den großen Börsen der Welt. Das Auf und Ab als anschauliches Börsengeschehen finden wir aber bereits im Tickertape selbst wieder. Das bloße Band ergibt bereits eine Verlaufslinie, die sich natürlich erst dem Außenstehenden zeigt. Der Spekulant, der es wagt, sich mit dem Ticker einzulassen, verliert sich schnell in den Windungen und Schleifen der kontinuierlich nachproduzierten Linie. Um diese Schlängeleien in den Blick zu bekommen, müssen wir uns vom Band und vom Broker entfernen und versuchen, das Ganze zu sehen. Und wir erkennen den Kampfplatz.

DAS STRAFFE GEGEN DAS GEWUNDENE

Das Straffe ist das Gerade, Gespannte, Direkte und Unmittelbare. Beispielhaft zeigt es sich im Tickertape zwischen den Händen des Brokers, aber auch in der Rede von Linie, Line, Strom, Stream, Fluss, Flow, Reihe und Domino. Es kehrt auch wieder im Märchen vom zügellosen Kapitalismus. Wir kennen diese Vorstellung, der Markt müsse nur gezügelt werden, geritten und beherrscht werden wie ein Pferd. Ihre Anhänger meinen, die Zügel dürften nicht schlaff hängen, sondern müssten fest angezogen werden. Diese Phantasie derjenigen, die glauben, den Markt im Griff haben zu können, so wie man das Tickertape festhält, sie ist der Fetisch. Die Gläubigen reiten den Markt nicht, weil der Markt sie reitet — mit kurzer Leine und unerbittlich.

Das Gewundene ist der große Gegenentwurf, das Andere der Linie, das Kurvige, das Mittelbare, der Gegen-Fetisch, Widersprüchliches und Zufälliges. Das Lockere, Abwegige und Abschweifende. Flüsse, die sich verzweigen, die neuen Wellen der Künste. Mäandernde, lückenhafte, fragmentierte Lebensläufe. Die neuerliche Forderung nach einer Ökonomie, die auch mit weniger (geraden Linien) auskommen soll, hat es längst ins Feuilleton geschafft. Das Gewundene ist die Gefahr, zweifellos. Es ähnelt dem Laisser-faire, daher die Angst der Regulierer. Doch im Unterschied dazu fürchtet sich auch der Broker davor, denn das Gewundene kann sich auch leicht gegen ihn wenden. Der Markt ist ebenso hart und undankbar. Schnell wird das Band zur langen Peitsche des Freihandels, geschwungen von Adam Smiths unsichtbarer Hand — und somit zum Galgenstrick für den Kleinanleger, gedreht vom Großinvestor.

Das Tickertape als Schlange ist die alte Erzählung von der Gefahr und Verführung, vom Tod also.

Das Gerade glaubt der Broker, wie der Regulierer, kontrollieren zu können. Das Gewundene ist ihm suspekt, es ist die Schlange der Ökonomie. Das Tickertape als Schlange ist die alte Erzählung von der Gefahr und Verführung, vom Tod also. Es ist die biblische Schlange vom Baum der Erkenntnis, es ist Kaa, die Mogli verführt, es sind die Seeschlangen des Poseidon, die Laokoon und seine Söhne ermorden. Wir kennen das alles, ob gläubig, kindlich oder bildungsbürgerlich informiert — es sind die bösen Bedeutungen und Deutungen der Schlange. Aber wie lassen sie sich begreifen, die tieferen Geheimnisse dieses Wesens?

LIVETICKER

Gab es jemals einen klassischen Kapitalismus, so war der Ticker sein Symbol und der Fetisch der Linie sein Phantasma. Aber auch darüber hinaus blieb die Idee des Tickers weiterhin präsent, der Fetisch der Linie setzt sich fort. Mit der Verbreitung des Internets, in den 90er-Jahren, hieß die neue Leitfrage der Gesellschaft: online oder offline? Das Begriffspaar ist ein technisches und schließlich auch semantisches Erbe der Telegraphie. Die Datenübertragung erfolgte über Kabel und Drähte — Linien eben. Auch Telefon und Internet funktionierten via Kabelanschluss, daher der Sprachgebrauch von on- und offline (im Gegensatz zum Radio: on air). Erst später wurde man mobil, vernetzte sich über Funk, war wireless unterwegs, was aber an der Wurzel nichts ändert.

Heute heißt on the line direkt und sofort erreichbar zu sein. Wer off the line ist, steht quer zur Linie, ist nicht darauf, sondern neben der Spur, nicht erreichbar, nicht adressierbar, nicht existent. Smartphones machen uns dauerpräsent, immer auf Linie, kontinuierlich und gleichzeitig mit allen anderen, können wir adressieren und adressiert werden. Wir nehmen teil und an uns wird teilgenommen. Wir sind online und damit immer im Dialog. Die anderen erwarten anderswo unsere Reaktion, sofort.

Das Fernsehen erfindet den Liveticker, eine seltsame Tautologie.

Unser Internet ist das große Meer, die offene See, in der wir navigieren. Eine Metapher lautet: Der*die Internetnutzer*in surft, wenn er*sie sich fortbewegt. Aber Meere sind uferlos und wirr, wenn wir uns auf ihnen bewegen. Das Wasser wie auch die Daten wollen dennoch verarbeitet werden. Die Gewässer wollen erschlossen und kanalisiert werden. Ein Kanal ist der Internet-Stream aus Texten, Sounds und Bildern. Dieser Fluss ist künstlich begradigt, er hat eine klare Fließrichtung, im Gegensatz zum Diffusen des Meeres.

Die Idee hinter dieser Metaphorik ist deutlich älter als das Internet. Als der Börsenticker sein Monopol auf Echtzeit und Kontinuität, auf das Jetzt und den Flow, an das Fernsehen der 60er- und 70er-Jahre abgeben musste, sah er nur eine Möglichkeit zu überleben, er schloss sich ihm an. In diesem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts wird das Aktuelle, Sofortige zum neuen Paradigma. Das Fernsehen erfindet den Liveticker, eine seltsame Tautologie. Als hektisch vorwärtsdrängende Linie durchzieht er von hier an die untere Bildschirmhälfte der Nachrichtensender.

TICKENDE TIMELINE

Der Live- oder Newsticker des Fernsehens findet sich in vielen Gestalten wieder. Noch immer liefert er dünne Börsennachrichten im neuen, elektronischen Bild. Aber er kann auch Text — in Zeiten des Musikfernsehens sogar interaktiv. In dieser Eigenschaft konnte er schließlich auch vom Internet adaptiert werden. Der Online-Liveticker informiert uns über Fußball, Revolutionen, Königshochzeiten und die Papstwahl. Als doppelte Jetztzeitigkeit von live und Ticker ist er die prägnanteste Verbindung von Jetzt und Gleich.

Eine Steigerung ist nun nur noch in der Breite möglich, in der Vermassung, in der Demokratisierung des Livetickers: Twitter. Twitter ist der neueste Nachfahre unseres ehrwürdigen alten Börsentickers und dem, wofür er steht. Wie kein anderer Internetdienst steht Twitter für das Paradigma des Stream: schnell, kompakt, jeder, jetzt, gleich, geradeaus. Der endgültige und digitale Ticker unserer Zeit. Wir sind die Produzent*innen unseres eigenen Bandes, so meinen wir, halten und verwalten das Leben, reproduzieren und verteilen unendlich und unauslöschlich. Doch Twitter steht längst nicht mehr allein an der Linie. Auch Facebook möchte sich unseres Lebens annehmen, möchte es mit unserer Hilfe fetischisieren. Facebooks Timeline drängt nach dem Monopol auf das Paradigma der Linie.

Das Digitale vergisst nicht, es bewahrt auf.

Das gespannte Tickertape zwischen zwei seriösen Broker-Händen ist so fröhlich konsistent und schnurgerade wie die Timelime unseres Profils. Sie organisiert die Summe aller vergangenen Gegenwarten zu einer anschaulichen Reihe, einer perfekten Linie vom Heute zurück über den Eintritt in die Gemeinschaft des sozialen Netzwerks bis zur Geburt.

Diese retrospektive Flucht der Timeline erscheint totalitär, vor allem ist sie skurril. Die vergangenen Gegenwarten (zumindest bis zur Einführung der Timeline) waren nie wirklich dafür gemacht, archiviert und gelistet zu werden, die Punkte der endlosen Reihe unseres Lebens waren so vergänglich wie die Zeichen auf dem Tickertape. Peinliches und Vergessenes findet sich in der Vergangenheit, jedoch nichts mehr, was uns heute noch entsprechen würde. Wir müssen unsere Linien, wir müssen die Vergangenheit in der Timeline retrospektiv bearbeiten, müssen auswählen, löschen und hervorheben. Wir müssen arbeiten gegen jene Entscheidungen, die Facebook an unserer Stelle traf, wir müssen wühlen im Papierkorb unserer Vergangenheit, müssen das gewundene Tickertape entknoten. Denn das Digitale vergisst nicht, es bewahrt auf. Der digitale Papierkorb ist ein Archiv für die Ewigkeit.

DER PAPIERKORB

Man steigt niemals zweimal in den gleichen Fluss, sagt der alte Grieche. Das gilt auch für die analogen Tickerströme. Die digitalen Flüsse sind aber bestens archiviert und fließen auf Wunsch immer wieder an uns vorbei oder eben unabwendbar, wie bei Facebook. Alles eine Frage des Papierkorbs. Der analoge Papierkorb war kein Archiv oder Speicher, er sollte die Schlangen bändigen und halten, die Energie des Gewundenen abführen. Damit trug er jedoch erst richtig zu ihrer Entfaltung bei, er war nur Behälter und darum Nährboden für die Schlangen. Die Verstopfung war produktiv, sie produzierte Wellen. Unser System gab sich kreativ, die Kräfte der Schlange zu zähmen und wieder zu integrieren.

New York, die Tickermetropole, feiert seit über 100 Jahren Ticker Tape Parades. In langen Bahnen oder kleinen Schnipseln regnet das Tape auf große Menschen, die Großes geleistet haben: auf Soldat*innen und Prominente, Sportler*innen und Präsidenten, auf all jene, die man gerade bejubeln möchte, zum Gewinn des Superbowls oder dem eines Krieges. Die Energie des übervollen Korbes kann sich entladen im nationalen Rausch. Die Schlange wird zerstückelt und in tausend Fetzen von den Häusern geworfen.

Was passiert, wenn sich die Schlange zu uns zurückwindet?

Wir haben uns tatsächlich sehr daran gewöhnt, haben das Gewundene gezähmt und in unseren Alltag integriert. Auch die digitalen Ticker am Times Square, die längst nicht mehr nur gerade ihre Bahnen ziehen, sondern kurvig über die Eckfassaden dahin schießen, lassen uns nicht aufmerken. Denn das Paradigma des Gewundenen scheint vereinnahmt, ist Schein geworden, fetischisiert und abgetötet. Ist das alles? Was können wir hoffen, wenn sich die Linie krümmt, das Band in Kurven dahingeht, der Fluss mäandert? Was passiert, wenn sich die Schlange zu uns zurückwindet?

DAS VERSPRECHEN DER SCHLANGE

Sensiblen Zeitgenoss*innen sind die Vorgänge nicht unbemerkt geblieben. Sie haben die Ironien der digitalen Linie beobachtet und sie zum Ausdruck gebracht. 2007 präsentierte Aristarkh Chernyshev seine Installation „URGENTLY!” und kommentiert die spezifische Aktualität und Haltbarkeit digitaler Neuigkeitsproduktion ausgerechnet am Urmodell dieses Paradigmas, dem Ticker. Ein LED-Band schlängelt sich in einen Papierkorb hinein und wieder hinaus, eine Allegorie auf die Zyklen der Informationsproduktion: Die News entstehen und vergehen im Sekundentakt, kaum produziert, verbrennen sie ihre Neuigkeit, verschwinden im Papierkorb und laufen am anderen Ende wieder heraus, um von Neuem neu zu sein. In der exakten Entgegensetzung zur Installation bastelte Adam Vaughan 2012 die „TWITTERTAPE MACHINE”. Sie orientiert sich am Design klassischer Börsenticker und druckt den eigenen Twitterstream nach kurzer Verzögerung auf den altbekannten dünnen Streifen Papier.

Die beiden Beispiele verdeutlichen: Die Überkreuzung von Alt und Neu, von Form und Inhalt ist widersprüchlich, generiert aber eine ästhetische Pointe. Es sind kleine Strudel im großen Meer, schwache Kurven gegen die große Stromlinienform.

Es gab eine Angst vor der Schlange, denn ganz bändigen ließ sie sich nie. Und auch nie ganz verstehen. Dies waren die Tickerschlangen, die analogen Schlangen der alten Börse, des 20. Jahrhunderts, die sich ihren Weg bahnten, aus den Papierkörben ausbrachen, Broker verschlangen, dem Geraden und Linearen widerstehend. Man suchte sie zu bannen im Spiel oder im Rausch. Sie überlebten.

Es fließt und strömt in Bahnen, die uns vorgegeben werden.

Die digitale Speicherung heute tötet die Schlangen ab, macht sie kurz nach der Geburt unschädlich, gleich nachdem sie unsere Gegenwartshände verlassen haben, begradigen sie auf Dauer, führen sie wieder in die Maschine ein, gegen die sie sich doch winden sollten.

Wo sind die digitalen Schlangen? Wo sind unsere kurvigen und gewundenen Widerstände heute? Die digitalen Geraden sind zu schön, um wahr zu sein, und die Kurven sind falsch. Es fließt und strömt in Bahnen, die uns vorgegeben werden. Wir haben uns an den Fetisch der Linie gewöhnt, wir reproduzieren ihn gern, tagtäglich. Aber wo sind die Schlangen? Bedürfen wir ihrer nicht, oder vielmehr dem, was sie freisetzen? Das Abschweifen, das flanierende Denken, der bewegliche Geist. Die Freiheit, andere Perspektiven einzunehmen, aus dem Strom auszubrechen. Es gilt, die Unordnung als Chance zu begreifen, nicht gegen, sondern mit ihr zu sprechen und zu handeln. Sich nicht mit den Geraden zufriedengeben. Die Kurven aushalten, die hoffnungslose Vieldeutigkeit der Welt, sie befragen und nicht beherrschen, ihren Verzweigungen folgen, anstatt sie zu begradigen.

Was also tun? Die Schlange packen, sie spannen und zum Seil machen, zur Leiter, zum Pfeil? Nein, die nächste Linie, der nächste Irrtum. Sie soll sich winden, wir wollen sie studieren, anstatt ihr in die Augen zu schauen. Wir werden ihrer bewusst, anstatt uns verführen zu lassen. Kenne deine Feinde, mache sie dir zum Freund, lerne ihre Bewegungen, verstehe das Spiel.

Und wenn es immer weitergeht? Dann gehen wir mit, so lange, bis wirklich nichts mehr geht — aber auf Umwegen, in Kurven, ausschweifend in Tiefe und Breite, wider die ideologischen Geraden. Gegen den Chor jener, die sagen, es gehe nur so weiter und so fort. Ob die Schlangen nun aus der Maschine kommen oder dem Meer, aus der Geschichte der Börsenökonomie oder der Gegenwart des Internets, mache sie dir zu eigen:

„Ride the snake,
Come follow me,
Across the sea,
Endlessly,
Ride the snake.”
The Doors