Proteste feiern, wie sie fallen
Die Temporär Autonome Zone kann man überall einrichten. Man muss sich einfach nicht mehr an die Regeln halten.
Kurz nach dem Ersten Weltkrieg stürzte sich der italienische Schriftsteller und Abenteurer Gabriele D’Annunzio in ein gewagtes Vorhaben. Obwohl die Pariser Friedensverhandlungen noch im Gange waren, eroberte er im September 1919 mit einem Trupp Freischärlern und Restbeständen der italienischen Armee die im heutigen Kroatien liegende Stadt Fiume. Sein Ziel war es, den Ort für Italien in Besitz zu nehmen, bevor sie von den Siegermächten dem Königreich Jugoslawien zugesprochen werden würde. Als die italienische Regierung das Angebot zur Annexion jedoch ablehnte und die Zufahrtswege zur besetzten Stadt blockierte, beschloss D’Annunzio kurzerhand, Fiumes Unabhängigkeit auszurufen und ihr eine Verfassung nach seinen Vorstellungen zu geben.
Diese Verfassung, die „Carta del Carnaro“, beinhaltete eine wilde Mischung aus anarchistischen, demokratischen und früh-faschistischen Ideen. Unter anderem wurde Toleranz zwischen Religiösen und Nichtreligiösen verordnet, das Frauenwahlrecht eingeführt, Möglichkeiten zur direkten politischen Beteiligung der Bürger durch Volksabstimmungen sowie ein Anspruch auf Mindestlohn wie auch Alters- und Krankenabsicherung festgesetzt. Besondere Bedeutung maß D’Annunzio säkularen Schulen bei, in denen der Unterrichtsschwerpunkt auf ästhetischer und musischer Erziehung liegen sollte. Musik wurde zum zentralen Prinzip des Staates erklärt.
Knappe 70 Jahre später führt uns der New Yorker Anarchist Hakim Bey das Experiment von Fiume als ein Ur-Modell dessen vor, was er in seinem 1991 erschienenen gleichnamigen Manifest als das Konzept der „Temporär Autonomen Zone“ beschreibt. Die Temporär Autonome Zone, kurz TAZ genannt, ist für Bey eine Form des Widerstandes gegen den bestehenden gesellschaftlichen Konsens. Ihr Ziel ist es, sich kurzzeitig Räume innerhalb der herrschenden Gesellschaftsstrukturen zu schaffen, in denen die andernorts üblichen Gesetze, Normen und Konventionen vorübergehend außer Kraft gesetzt sind. Die programmatische Kurzlebigkeit einer solchen autonomen Zone macht es dabei unmöglich, sie als Fanal für eine wie auch immer geartete Weltrevolution zu begreifen.
Jede TAZ ist eine Insel des Protestes
Vielmehr ist die TAZ ein theoriefernes Gebilde. Ihre kennzeichnenden Triebkräfte sind Spontaneität, Lust am Dissens und der Drang, sich in der unmittelbaren Aktion zu verwirklichen. Das klassisch revolutionäre Diktum, dass vor der großen Erlösung aufopferungsvolle Jahre theoretischer und praktischer Arbeit liegen müssen, wird verworfen. Stattdessen soll sich der punktuelle Aufstand spontan im Vergnügen der Beteiligten realisieren. Jede TAZ ist eine Insel des Protestes, ein individuelles, jedoch zum Mitmachen einladendes Projekt wider die bestehenden Verhältnisse.
Drei Eigenschaften sind es, aus denen sich jede TAZ zusammensetzt: der „Psychische Nomadismus“, ein Sinn für den Eventcharakter des Protests und das sogenannte „Spinnennetz“. Viele Widerstandsformen, die uns heute fast täglich begegnen, werden von diesen Strukturen durchzogen und zusammengehalten. „Psychischer Nomadismus“ meint ein unideologisches, weltoffenes Denken, das sich sein individuelles Bild der Realität aus bereits vorhandenen Weltanschauungen zusammenpuzzelt. Dabei geht es nicht um ein stimmiges Gesamtkonzept für eine bessere Welt. Es reicht auch, wenn das ideologische Flickwerk zumindest Orientierung für den Moment bietet.
Den Eventcharakter des Widerstandes, also die Überzeugung, dass Protest immer die Form einer Feier annehmen kann und sollte, erklärt Bey wiederholt zum Wirkungs- und Verwirklichungsprinzip einer TAZ: „‚Fight for the right to party‘ ist keine Parodie auf den radikalen Kampf, sondern eine neue Manifestation dessen.“
Das „Spinnennetz“ schließlich ist eine horizontale, nach allen Seiten offene und am besten computerbasierte Kommunikationsstruktur zwischen verschiedenen Temporär Autonomen Zonen. Dank seiner dezentralen und auf Verborgenheit bedachten Form können seine Datenströme nicht von einer Zentralgewalt kontrolliert werden. Bey prophezeit schon in den 90ern, dass in einem solchen „Gegennetz“ Datenpiraterie und freier Informationsfluss als Protestformen an der Tagesordnung sein werden.
Beim Blick auf die Protestkultur der Gegenwart erkennen wir die Aktualität von Beys Idee, dass sich gesellschaftlicher Widerstand nach Form und Inhalt in viele Areale zerteilt. Zu groß und unübersichtlich scheint die Welt geworden zu sein, als dass man ihr mit einem umfassenden Erlösungskonzept noch beikommen könnte. Stattdessen ist das Schlachtfeld in die unterschiedlichsten Kampfzonen zergliedert: Stuttgart 21, Occupy Wall Street, Guerilla-Gardening, Adbusters, autonome Kulturzentren, Flashmobs, Reclaim-the-street-Partys, Kommunikations- und Spaß- Guerilla-Einheiten, um nur eine Auswahl zu nennen.
Jeder Protest ist primär ein Event, ebenso kurzweilig wie kurzlebig — eine Party.
Alle diese Bewegungen eint ihr temporärer Charakter, keine erhebt Anspruch auf Institutionalisierung oder Kontinuität. Jeder Protest ist primär ein Event, ebenso kurzweilig wie kurzlebig — eine Party. Und sobald die Party aus ist, wartet schon irgendwo die nächste — dieses Credo ist es, das die Jünger der TAZ von den sozialutopischen Revolutionären alter Schulen unterscheidet.
Sicher käme heute niemand, den es nach einer eigenen Protest-Party gelüstet, auf die irrwitzige Idee, dem Beispiel D’Annunzios zu folgen und sich einfach eine komplette Stadt unter den Nagel zu reißen. Das ist auch nicht notwendig, denn wie Bey uns erklärt, muss eine TAZ nicht einmal ein physischer Ort sein.
Eines der prominentesten Beispiele für eine TAZ, die lediglich einen virtuellen Raum einnimmt, darf im Netzkollektiv Anonymous gesehen werden. Die Internet-Guerilla-Taktiken ihrer Aktionen (DDoS-Angriffe), die Kurzlebigkeit, mit der sich einzelne Mitgliedergruppen speziellen Projekten widmen, sowie ihr häufiges Bekenntnis zum „lulz“, also zur Aktion um des Schabernacks willen, macht sie ganz im Sinne Beys zu einer Temporär Autonomen Zone im Internet.
Darüber hinaus praktizieren die Mitglieder durch ihre kollektive Identität eine moderne Spielart von Unsichtbarkeit — eine Maßnahme, die auch Bey als relevantes Kampfmittel propagiert. Am anderen Ende des TAZ-Spektrums stehen beispielsweise besetzte Häuser oder Festivals, die sich für einen begrenzten Zeitraum einen höchst realen Ort zu eigen machen.
Was also ist die TAZ? Sie ist Inspiration, nicht Instruktion — ist Insurrektion, nicht Utopie. Bewusst verzichtet Bey zu jedem beliebigen Zeitpunkt auf eine Definition und spricht von einer „poetischen Spielerei“. Er will dazu anstacheln, die Realität auch in ihrer verworrenen Vielschichtigkeit nach wie vor als Terra incognita zu begreifen, in der es immer wieder Orte zu entdecken gibt, in denen Protest- und Lebensformen fröhlich fließend ineinander übergehen.
Vergessen werden darf dabei freilich nicht, dass auch dem erfolgreichsten Landgewinn bereits die Endlichkeit der Sache in die Wiege gelegt ist. Das ist Teil des Konzepts. So musste es auch der Proto-TAZler D’Annunzio erfahren, erlangte doch seine „Carta del Carnaro“ nie den Status einer rechtsgültigen Verfassung. Noch bevor sie in die Tat umgesetzt werden konnte, hatte D’Annunzio im November 1920 Italien den Krieg erklärt. Der darauf erfolgende Angriff eines italienischen Kriegsschiffes vertrieb die Besetzer*innen aus der Stadt. Nach etwas mehr als einem Jahr war die Party aus. Zumindest in Fiume.