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„Nutzt eure Hände, schreibt auf Papier“

Kann Sprache – alte Strukturfetischistin, die sie ist – selbst schon zärtlich sein? Vielleicht eine, die körperlicher funktioniert. Kassandra Wedel ist Tänzerin, Performerin, Schauspielerin. Taub. Für das Projekt handverlesen hat sie Lyrik in Bewegung gebracht – in Gebärden- und Schriftsprache.

„handverlesen“ erkundet in Videoformaten die Poesie der Gebärdensprache, stellt Gedichte in dieser Sprache vor, die dort immer wieder in etwas beinahe Tänzerisches übergeht. Eine Qualität, die der gegenwärtigen Lyrikszene eine ganz neue Richtung aufzeigt. Was hast du in der Arbeit mit den Gedichten bei „handverlesen“ noch Neues über die Unterschiede von Schriftsprache und Gebärdensprache gelernt?

Ich bin in beiden Sprachen zu Hause, die gesprochene und Schriftsprache ist meine Muttersprache, die Gebärden meine zweite. Über die Poesie habe ich aber Neues gelernt. Ich wusste nicht, dass man so viel darf. Wortneuschöpfungen, Sätze mit schiefer Grammatik oder solche, die komplett nach Dada klingen – Gehörlose, die der deutschen Sprache nicht richtig mächtig sind, schreiben sehr häufig so. Ich kann das einordnen, weil ich Gebärdensprache kann, aber grundsätzlich werden diese Sätze belächelt oder als falsch bezeichnet. Bei „handverlesen“ wurden sie nicht nur ernst genommen, sondern zu Kunst. Das war für viele in den Workshops eine ganz neue Erkenntnis. Zu spüren, dass man sich für diese Sätze nicht schämen muss, eine Befreiung. Mich hat diese neue Freiheit dann sehr ans Tanzen erinnert – da darf man auch so kreativ sein.

Wie funktioniert die Übersetzung vom Schriftlichen ins Visuelle – oder ist das schon komplett falsch gedacht?

Nein, nicht falsch gedacht, das ginge. Das ist aber nicht das Ziel in den Workshops von „handverlesen“. In einer klassisch funktionierenden Übersetzung geht immer etwas von der Poesie verloren. Weil jede Sprache eben ihre Eigenheiten hat, klappt es nie eins zu eins, sondern höchstens nah dran. Ziel war stattdessen, egal ob vom Schriftlichen ins Visuelle oder umgekehrt, dass der*die jeweils andere Künstler*in ein neues eigenes Werk daraus macht. Man hat dann hinterher zwei Werke. Nicht eines, das übersetzt wurde. So bleibt die Poesie lebendig und eigen.

In einer Übersetzung geht immer etwas von der Poesie verloren.

Hände, Gesten, all das ist, als wir unser aktuelles Heft machten, in unseren Redaktionsgesprächen immer wieder gefallen, wenn es um den Kern von Zärtlichkeit ging. Wo verschwimmen die Grenzen zwischen Gebärde und Zuneigung? Bei einer Sprache, die schon so körperlich scheint, ist da eine Umarmung näher als bei rational verkopfter Distanz – oder reproduziere ich hier gerade die schlimmsten Vorurteile?

Hmm, Gebärden können zärtlich sein, aber auch grob, direkt, hart. Es wirkt vielleicht nur in gebärdeter Poesie alles zärtlicher, weil die Bewegungen fließender sind oder rhythmisch. Es ist eben Poesie fürs Auge, fast wie visuelle Musik. Aber Zuneigung und Gebärde ist nicht automatisch verbunden, es ist wie beim Schauspielen: Es kommt drauf an, mit welchem Gefühl du eine Gebärde ausdrückst, mit welcher Geschwindigkeit du etwas erzählst – das macht das Zarte aus oder eben nicht. Wenn man unschöne Sachen gebärdet, finde ich keine Zuneigung darin, für eine*n Außenstehende*n mag es vielleicht aber trotzdem interessant und geheimnisvoll wirken, weil er*sie die Gebärden nicht versteht und die Gesten als anmutig empfindet, nur Bewegungen sieht. Wenn er*sie verstünde, was der Inhalt ist, würde seine*ihre Illusion vergehen. Was aber auf jeden Fall so ist: Wir haben eine große Zuneigung für unsere Sprache, wir lieben sie, finden sie schön, sie ist Teil unserer Identität.

Was ist für dich eine zärtliche Sprache?

Damit habe ich mich noch nie beschäftigt. Die Sprache der Liebe würde ich sagen, ist zärtlich. Egal ob es Körpersprache ist, ein Blick, eine Geste, gesprochene Worte oder Musik – ob getanzt oder als Gedicht. Wo Liebe drin steckt und sie fühlbar ist, da ist für mich Zärtlichkeit. Damit meine ich aber nicht diesen Kitsch ...

Geschwollen ist das Gegenteil zu Zärtlichkeit.

Ja, wie vermeidet man nur diesen Kitsch?

Gute Frage. Indem etwas nicht zu geschwollen, gewollt und aufgesetzt ist. Geschwollen ist das Gegenteil von Zärtlichkeit. Zu viel des Guten, zu dick aufgetragen.

Wären andere Ausdrucksformen als die grammatische Sprache, ob gebärdet, geschrieben oder gesprochen, besser geeignet, Zuneigung zu kommunizieren?

Ich denke, der Körper sagt manchmal mehr als Worte. Es sind ja oft Worte, die Zuneigung versuchen auszudrücken und das nicht schaffen, weil die Gefühle vielleicht nicht echt sind. Bloße Lippenbekenntnisse. Das geht in Gebärden genauso: „Gebärdenbekenntnisse“.

Hast du Ratschläge für ein bisschen mehr Zärtlichkeit in unserer Kommunikation?

Genaugenommen fehlt doch gerade denjenigen etwas, die nur sprechen können.

Ja: Benutzt alles zum Kommunizieren! Hört auf zu glauben, man müsste nur die Lippen bewegen, es ist manchmal steif und unbeholfen. Sehr viele Menschen können nur rudimentär ihre Hände nutzen, es wurde uns sogar im Laufe der Geschichte abtrainiert – weil man sich von tierischem Verhalten, ganz konkret vom Affen, abgrenzen wollte. Der Verzicht auf diese Ausdrucksform ist also schlichtweg eine Beleidigung: für diese intelligenten Tiere, für taube Menschen und für die Poesie der Gebärdensprache. Genaugenommen fehlt doch gerade denjenigen etwas, die nur sprechen können. Sie sind aufgeschmissen, wenn ihr Reden mal nicht gehört wird. Seltsam eigentlich. Kommunikation hat viele Formen und Wege. Nutzt eure Hände, schreibt auf Papier – das ist alles weniger kitschig als euch vorkommt.

Was ist zärtlichste Text, den du kennst?

Oh, ich stolpere immer mal wieder über welche. Aber wenn ich sie mir merken will, ist es, als vergehen sie mir wie Wasser zwischen den Fingern. Aber der zärtlichste Text, den ich auswendig kann und der mir spontan einfällt, den ich gerne gesprochen und gebärdet habe, ist „Um ein Gedicht zu machen habe ich nichts“ von Ernst Jandl. Ich musste es jeden Tag in den Proben sprechen als Warm-up, und jeder Tag war anders. Dort heißt es:

„um ein gedicht zu machen
habe ich nichts
eine ganze sprache
ein ganzes leben
ein ganzes denken
ein ganzes erinnern“

Für mich ist es so zärtlich, weil in diesem Nichts dann doch alles drin steckt.