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Morgen

Die Flamme des Feuerzeugs war kraftlos, aber die Nacht wurde zumindest ein wenig heller. Vom trotzdem Weitermachen.

Mit der Dunkelheit kam die Stille. „We could be heroes“, hatte Bowie gesungen. We could, hatte er gedacht, als die Musik gleichzeitig mit dem Licht der Glühbirnen erstarb, nur noch das mechanische Drehen der Schallplatte auf dem Teller zu hören war, ein letzter Atemversuch, zwei, drei Sekunden lang, bevor die Heldinnen und Helden endgültig begraben waren.

Kein Knistern mehr, kein Brummen. Nichts klapperte, klopfte. Kühlschränke, Zapfanlage, Verstärker, all die Stromsauger, die bei Fütterung beständig Lebenszeichen von sich gaben, abgeschnitten von der Nahrungsversorgung. Die Straßenlaternen vorm Lokal aus. Keine vorbeiziehende Menschengruppe, deren Geplapper Sehnsucht nach Gesellschaft in ihm hätte wecken können, wie es in anderen Nächten der Fall gewesen war.

Er starrte ins Schwarze. Vielleicht war es nur eine Frage der Zeit, bis die Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Kurz glaubte er, die Umrisse seiner Hände erkennen zu können, dann wurde ihm klar, dass es nur die Erinnerung war, die ihn täuschte. Die Pupillen konnten sich auf schwache Beleuchtung einstellen, sehen ganz ohne Licht war unmöglich. Er streckte die Beine aus, gab der Wirbelsäule nach, die sich nach hinten krümmen wollte. Über den Tisch gebuckelt saß er da. Seine Müdigkeit ging über die übliche Erschöpfung am Feierabend hinaus, bis in die Organe hinein.

Ein Bild tauchte in seinem Kopf auf: er als junger Mann, frisch angekommen in der noch unbekannten Stadt, wie er durch eine hochsommerlich erhitzte Straße flaniert. Frauen in bunten Kleidern tänzeln ihm entgegen, jedes Paar ihrer nackten Beine ist für ihn das schönste Paar Beine der Welt. Nur dass es nicht stimmen konnte. Er war zum Winter in die Stadt gezogen und die Frauenbeine mussten in langen Hosen gesteckt haben während dieser eiskalten Anfangswochen, so wie er unter Schichten von Wolldecken, weil allen Bewohnern der Wohngemeinschaft, inklusive ihm, die Kohle für Kohlen gefehlt hatte. Er lachte. Wenn Lia ihn morgen fragen würde, vielleicht würde sie gar nicht fragen, aber wenn sie ihn fragen würde, wo er gewesen sei, als der Strom ausfiel, dann würde er in den Raum hinein gestikulierend antworten: „Zuhause.“ Er würde es wie einen Witz klingen lassen, aber sie würde verstehen, dass er es ernst meinte.

Was, wenn Lia auf dem Nachhauseweg vom Stromausfall überrascht worden war? Er sollte sie anrufen, zumindest eine Nachricht schicken: „Bist Du in Sicherheit?“ Aber das Mobiltelefon mit der eingespeicherten Nummer steckte in seiner Jackentasche, die Jacke lag wie immer hinten in der Küche. Er würde die Sitzbank nach hinten schieben, aufstehen, sich umdrehen, mit ausgestreckten Armen zur Theke vorwagen müssen, durch den schmalen Gang zwischen Zapfanlage und Regalen weitertapsen, sich die Zehen an Getränkekisten stoßen, bis er endlich die Küche erreicht hätte, die zum Lagerraum verkommen war, seit niemand mehr darin kochte. Im Dunklen ein weiter Weg.

Vor sich ertastet er die Zigarettenschachtel, fummelte das Feuerzeug heraus, entlockte die Flamme mit einer einzigen schnellen Daumenbewegung. Ihr Licht war schwach, er sah kaum mehr als den Aschenbecher auf dem Tisch. Er zündete sich eine Zigarette an, inhalierte tief. Erst als seine Daumenkuppe brannte, ließ er das Feuerzeug los. Waren die Ampeln ausgefallen, krachten draußen Fahrzeuge ineinander, war Lia in Gefahr, während er gemütlich rauchte?

Kam ihr jemand am Tresen dumm, lachte sie, laut und entwaffnend, wie eine, die sich nicht fürchtet, nicht vor Betrunkenen, nicht vor Stromausfällen, nicht vor der Zukunft.

Vorhin war er kurz davor gewesen, es ihr zu sagen. In seinem Kopf hatte er es schon hundertmal formuliert, er müsste die Worte nur einmal laut aussprechen, aber Abend für Abend blieben sie stecken, seit Wochen. Sie hatte ihm gegenüber gesessen, wie nach jeder Schicht hatte sie sich ihren Lohn selbst abgezählt, die verbliebenen Einnahmen in einen Briefumschlag gesteckt. Später in seiner Wohnung würde er ihn zu den anderen legen. Bald musste er die dünnen Umschläge zur Bank bringen, wo man das Geld auf seinen Dispokredit anrechnen würde, was absurderweise bedeutete, dass die Zahl auf dem Auszug kleiner sein würde als vorher. Wann hatte sich alles umgedreht?

Lia war aufgestanden, hatte sich über den Tisch hinweg zu ihm hinuntergebeugt, die Arme locker um seinen Hals geschlungen, „Gute Nacht“, hatte sie gerufen, schon fast aus der Tür. Er hatte eingeatmet, sich bereit gemacht für den Satz: „Ich kann dich nicht mehr bezahlen, Lia“, aber es war nur ein Stöhnen aus ihm herausgekommen, ein beschämender Klagelaut. Sie hatte den Kopf gedreht, ihn überrascht angeblickt, aber er hatte abgewunken, mit der Hand gewedelt, als wollte er sie verscheuchen. Und sie war gegangen. Er wusste, dass er sich nicht um sie sorgen musste. Kam ihr jemand am Tresen dumm, lachte sie, laut und entwaffnend, wie eine, die sich nicht fürchtet, nicht vor Betrunkenen, nicht vor Stromausfällen, nicht vor der Zukunft. Ihr Mitleid auszuhalten würde das Schwerste werden.

Das Licht kam plötzlich, blendete ihn. Er kniff die Augen zusammen, öffnete sie, schloss sie, öffnete sie. Er schaute. Der Strahl einer Taschenlampe wanderte kreuz und quer durch den Raum, ließ Tische und Bänke aufleuchten. Jemand klopfte an die Scheibe der Ladenfront. Eine männliche Stimme sagte: „Hallo?“, und noch einmal langgezogen: „Ha-a-a-a-llo-o-o-o-o-?“ Er rührte sich nicht. Der Taschenlampenbesitzer begann, abwechselnd zu rufen und zu klopfen: „Hallo“, tock, tock, „Hallo“, tock, tock, „Hallo“. Sein ganzer Körper war von Gänsehaut überzogen. Er hatte gedacht, Lia könnte in Gefahr sein, dabei saß er hier drin in der Falle. Ohne Strom, kein Telefon greifbar, in einem Lokal, das nichts mehr abwarf, aber nach etwas Geld aussah, dessen Tür er, träge, wie er war, hinter seiner einzigen Mitarbeiterin nicht abgeschlossen hatte. In all den Jahren war er nicht einmal überfallen worden. Statistisch wäre er fällig. „Scheiße!“, brüllte er, grapschte nach dem Feuerzeug mit der kraftlosen Flamme, „Scheiße!“, wand sich von der Bank hoch, stieß sich beim Aufstehen das Knie an der Tischplatte, „Scheiße“, stolperte um den Tisch herum zur Tür, riss sie nach innen auf, trat hinaus, dem Fremden entgegen, der zurückwich: „Okay, kein Problem.“

In der milden Nachtluft entspannte er sich sofort. Die Angst von eben kam ihm jetzt lächerlich vor. „Was denn“, sagte er, mehr zu sich selbst, „was denn?“ „Ich bin Frank“, sagte der Mann, er drehte die Taschenlampe so, dass sein Gesicht angeleuchtet wurde, „der Nachbar von drüben“, mit dem Daumen wies er hinter sich auf die gegenüberliegende Häuserzeile, „wir sehen uns immer.“ „Ich denke nicht“, erwiderte er. Nichts an diesem Gesicht kam ihm bekannt vor. Es sah aus, als hätte ein Kind mit Wachsstiften Augen, Nase und Mund in einen Kreis hineingemalt. Alles war zu groß geraten, was dem Nachbarn einen freundlich-enthusiastischen Ausdruck gab. „Doch, Sie sitzen immer im Lokal, wenn ich nachts nach Hause komme“, fuhr Frank fort, „immer am selben Tisch und rauchen.“ Dagegen konnte er kaum etwas sagen. Allerdings irrte sich Frank, wenn er glaubte, dass jeder, den er mal gesehen hatte, umgekehrt auch ihn gesehen haben musste.

„Ich koche grade Spaghetti“, sagte Frank, „bumm, geht das Radio aus, bumm, geht das Licht aus, bumm geht der Herd aus. So eine Nacht ist das, denke ich, aber jetzt bei den Nachbarn klopfen, das ist keine gute Idee, die bekommen vielleicht Todesangst, die schlafen ja längst. Und ohne Strom kannst du nicht klingeln.“ Frank tippte sich mit dem Finger an die Stirn. „Da fallen Sie mir ein. Der ist der Richtige, denke ich, der ist wach. Schnappe mir die Taschenlampe und gehe los.“ Er hatte keine Ahnung, was er darauf antworten sollte, aber es war in dieser wirren Rede auch um Essen gegangen, also probierte es mit: „Haben Sie Hunger?“ Frank winkte ab. „Brauchen Sie Teelichter?“ „Nein, nein“, sagte Frank, schwenkte die Taschenlampe. „Zigarette?“ Frank schüttelte den Kopf: „Ich mache jetzt das Licht aus.“

Bevor er dagegen protestieren konnte, hörte er das Klicken des Schalters. Schlagartig war Franks Gestalt in der Dunkelheit verschwunden. Ganz klar hatte er es mit einem Irren zu tun. Er hielt die Luft an, ballte die Fäuste. Nichts geschah. „Und wir brauchen erst einen Stromausfall, um zu erkennen, was da oben abgeht“, sagte Frank. Aus Reflex hob er den Kopf. Am Himmel funkelt es. Sterne, dicht an dicht wie Bläschen in der Schaumkrone eines frisch gezapften Biers. Entzückende, zuckende Lichter. Von früher kannte er solche Sternenhimmel. Ohne Straßenlaternen und Leuchtreklamen waren die Nächte auf dem Land ähnlich finster wie diese. Wann hatte er das letzte Mal auf Sterne geachtet? Was da oben abgeht, wiederholte er Franks Worte im Kopf. Er stellte sich vor, wie er Lia morgen davon erzählen würde: „Ich habe mit einem Verrückten zusammen den Himmel beglotzt“, und wie sie darauf nur knapp mit den Schultern zucken würde, als wäre es das Normalste der Welt. Nach einer Weile schaltete Frank die Taschenlampe wieder ein, „Jetzt kann ich schlafen“, und machte sich ohne ein weiteres Wort auf den Weg über die Straße. Erst aus einigem Abstand rief er: „Bis morgen!“, als wären sie seit Ewigkeiten Freunde.

Plötzlich wurde ihm alles klar: Früher oder später würde sich ein Auto in die Straße verirren, Scheinwerferlicht auf die Häuserfassaden werfen, ein schmaler Streifen Gewissheit, so schnell wieder verschwunden, wie er aufgetaucht wäre, doch unübersehbar. Es würde zu dämmern beginnen, die Vögel würden zu plaudern anfangen und schließlich würde die Sonne zuverlässig über den Horizont kriechen. Und irgendwann, davor oder danach, würde der Strom zurückkommen und mit ihm Bowies Gesang und die Heroes würden auferstehen, einen Tag lang für immer, und er würde weitermachen, weil es das war, was man eben tat: weitermachen.