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Manifest des Radikalen Konjunktivismus

„Wir haben die ganze Nacht gewacht — meine Freunde und ich, unter den Moscheeampeln …“ — so, rather kitschy also, hob 1909 F. T. Marinetti an, als er das berüchtigte „Futuristische Manifest“ ausrief, die Ursuppe der europäischen Avantgarden. Steffen Greiner setzte sich eine Spritze feinsten Motorenöls und überschrieb das geile Desaster als heilsgeschichtliches Pastiche.

Eine durchwachte Nacht kann meine Freunde und mich auch nicht retten, unsere Seelen nicht sternenübersät, sondern teerschwarz, unsere Herzen nicht elektrisch, sondern infarktös, die Grenzen der Logik liegen wieder vor uns wie die Zukunft so fern, und Papier mitzunehmen haben wir wieder vergessen — stolz waren wir nicht, die einzig Wachen nicht in dieser Nacht, keine Lokomotive schnaufte und kein Wagen sprang feuertrunken in den Graben. Als der Morgen dämmerte, waren wir so weit, wie wir gewesen waren, und schleppten uns ins Bett.

Als der Morgen Morgen schon war, später, schnitt der Fakt mir messergleich die Kehle durch. Freunde, rief ich, meine Freunde, und wir saßen, sangen und schrieben und wussten nichts mehr, bloß, dass nun alles vergehen würde, dass nun alles, was geschaffen ist, geschaffen ist, um zu verschwinden, und obschon wir wussten, dass es schon vorher so hätte sein müssen, vor dem Morgen, dass es so war, vielmehr, ganz sicher, schon als wir tote Haifische noch mit einer Liebkosung Lazarus werden ließen (und wer ist hier eigentlich jetzt Messias?), konnten wir es doch nicht glauben.

Wenn der Tod die Konsequenz von Leben ist, ahnten wir, wenn der Tod sich nicht wegleben lässt, wie ein Schnupfen sich wegleben lässt mit einem Glas vom Klaren, wie die Trauer mit einem Sprung im Staub der Tanzplätze in der Dunkelheit — wir glaubten stets, den Tod zahm zu machen mit Geschwindigkeit, dass er uns mit verliebten Blick anschauen würde, würden wir bloß über ihn lachen lernen, dachten stets, dann wiederum, uns die Maske des Todes anzuziehen würde uns unsichtbar machen, obschon man vor uns zurückweichen müsste, wir Tote wären unter den Lebenden, denn Masken sind Leben und Tod in einem — wenn der Tod die Konsequenz des Lebens ist und das Leben den Tod nicht besiegt, würden wir das Leben besiegen. Und wir diktierten unseren ersten Willen allen lebendigen Menschen dieser Erde:

Manifest des Radikalen Konjunktivismus
  1. Der Radikale Konjunktivismus befreit die Möglichkeiten von ihrem Eintreten. Dem Radikalen Konjunktivismus ist das Leben konservatives Kraftfeld, sein Innen und Außen gewinnt weder Energie noch verliert es sie; Leben = reines Potenzial.
  1. Jeder Ismus der Geschichte strebte in die Geschwindigkeit, der Radikale Konjunktivismus strebt in die Stasis. Er ist nicht kraftvoll, er könnte kraftvoll sein. Er ist nicht vorwärtspreschend, er könnte vorwärtspreschend sein — und prischt darum nicht vor.
  1. Der Modus der Ismen ist der Modus der frischen Tat. Der Modus des Radikalen Konjunktivismus ist der Modus des zeitlosen Tät-Ichs.
Auch der Kapitalismus ist konjunktivistisch.
  1. Ideengeschichtlich betrachtet ist der Konjunktivismus als dictature des possibilités eine historisch notwendige Vorstufe des Radikalen Konjunktivismus. Auch der Kapitalismus ist, insofern er für die, die nicht seinen prekären Erhalt erarbeiten, Auswahl und Konsum bedeutet, konjunktivistisch. Auch denen, die arbeiten im Glauben, alles sein zu können, wenn sie nur daran glaubten und kräftig zur Tat schritten, ist er konjunktivistisch. Der Radikale Konjunktivismus wäre, so gelesen, eine statisch revolutionäre, akzelerationistische Bewegung hin zur Überwindung des Letzteren. Diese Annahme ist falsch. Es kann im Kontext bestehender Ismen keinen von der Masse getragenen Radikalen Konjunktivismus geben. Ein Radikaler Konjunktivismus, der auf den reproduktiven Taten anderer beruht, ist keiner. Auch, wenn man im Modus des Pastiche denkt, sollte man kein Arschloch sein.
  1. Jeder Ismus schoss in die Geschichte, um an ihr zu verglühen … Lediglich der konjunktivistische Kapitalismus schläferte jene ein — ohne freilich sie zu überwinden. Seine Geschichte war bloß gelähmt. Darum kann sie mit seiner Krise nun zurückkehren. Das Schöne der Geschichte: Der Schatten absolutistischer Traumzeiten, der noch stets über unseren Straßen lungert, wird hinweggerissen, eine Zukunft ist wieder zu erobern, eine Welt zu erbauen. Das Böse der Geschichte: Die Traumzeit verliert ihre Schattenhaftigkeit und tritt ins Leben zurück als der alte brutale, menschenverachtende Wichser, der sie immer schon war. Es ist am Radikalen Konjunktivismus, die positive Utopie des Posthistorischen ins biografische Leben zu holen.
Der radikale Konjunktivismus kennt keine Held*innen.
  1. Die Helden des Konjunktivismus sind Lili Elbe, David Bowie, Wendy Darling, Candy Darling, Frank W. Abagnale, Michael Jackson und Florence Foster Jenkins. Sie nahmen mit sich die Ideen von Geheimnis und Möglichkeit. Sie verweisen auf die Möglichkeit des Möglichen im Gelebten, der Überwindung des Seins, der Zeit — und konnten sie doch nicht erreichen. Die Helden des Radikalen Konjunktivismus sind dem Radikalen Konjunktivismus unbekannt und werden es bleiben. Der Radikale Konjunktivismus als Utopie der Tatfreiheit kennt keine Held*innen.
  1. Dabei ist der Radikale Konjunktivismus nicht defätistisch oder schlapp. Die unendliche Spannung des Fingers am Abzug, wenn das Gewicht des Hammers sanft die Nervenbahnen bis ins Hirn hochschießt, die kaum zu haltende Balance des Diskuswerfers in seiner letzten Vierteldrehung vor dem Abwurf — diese Euphorie ist der Wesenskern des Radikalen Konjunktivismus. Jede Enttäuschung bleibt Schatten von Ahnung, jede Überzeugung aber die des sicheren Triumphs.
  1. Der Radikale Konjunktivismus glaubt nicht, dass Leben passiert. Die Bedrohung der Aufkündigung der Zukunft wird ihm frohe Erwartung. Der Radikale Konjunktivismus überwindet den Ekel angesichts der Unendlichkeit der Möglichkeiten hin zu einer unbeschreiblichen Freude: Ihm bleiben alle Türen offen. Wer keinen Pfad geht, ist pfadunabhängig.
  1. Die Möglichkeit des Todes ist dem Radikalen Konjunktivismus eine unter den unendlich vielen. Sie wird, wie alle anderen, neugierig und vorfreudig von allen Seiten und mit allen Zeiten betrachtet, aber dann, wie alle anderen, sanft vorbeiziehen gelassen. Der Tod ist nicht konjunktivistisch. Der Radikale Konjunktivismus ist unsterblich.