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Ich bin mir sicher, Ryan Gosling zu sein

Pumpen für die Gegenwart: Bernhard Jarosch schiebt sich ohne Wahrnehmungsfilter durch die Nacht.

Der Musiker John Maus schlägt sich ständig mit der Faust gegen den Kopf. Während er weiter völlig zugedröhnt in die Konzerthalle brüllt, sitze ich schon in der U-Bahn 8 und schaue einem Penner dabei zu, wie er immer wieder seinen Hinterkopf gegen die Plexiglasscheibe haut. Die anderen verhalten sich regungslos. John Maus habe ich abgefeiert, den Penner versuche ich zu ignorieren. Wolfgang Tillmans hat auf Instagram auch schon sein Foto gepostet. Er saß auf der Empore — 836 rote Herzen. Ich versuche, die Gleichzeitigkeit dieser Extreme einzufrieren, alle Schichten dieses Irrsinns mit einem Skalpell zu sezieren. Aber nein, wie dumm. Die Gegenwart mag vielleicht kaputt sein, aber der Wunsch, sie zu kontrollieren, ist noch kaputter.

Wir sind zwei Freunde, die um die Tischkante des gleichen Nischenmilieus zusammensitzen. Selbst wir schauen uns vom einen auf den anderen Moment wie völlig fremde Wesen an, die zwar Zeit, aber keine Begriffe mehr teilen. Wie soll man sich dann — wenn man es überhaupt möchte — mit all diesen anderen, abgedichteten Kreaturen verständigen, die an einem vorbeiglotzen, als teile man nicht einmal einen Raum? Wie denn nun, John Maus, U-Bahn-Penner, wie denn, ihr Prassnik-Köpfe?

Beim Ausnüchtern im Humboldthain jagt ein Rüde eine Krähe. Die Nacht übergibt sich. Gedankensplitter im Erfahrungsschatz. Schon passt alles wieder nicht mehr zusammen. Vom Flaneur, meinem Interpreten der Wirklichkeit, der die unzusammenhängenden Teilchen in einem Kunststück zusammensetzt, bleibt nur noch die lächerliche Gestalt des verhutzelten Literaten. Er weiß nicht, wer den Stock geworfen hat. Das erzählt er mir so, während ich über das Wort
„Gleitzeit“ nachdenke. Das Wort macht mich fertig. Es lässt sich nicht flüssig aussprechen. Dabei meint es doch genau das. Nicht zu merken, wo sich Anfang und Ende berühren. Ich lasse den Interpreten hinter mir und stolpere über die plötzlich frühlingsgrüne Wiese in Richtung Bierbrunnen am Bahnhof Gesundbrunnen.

Ich renne auf dem Laufband und denke: So muss das sein. Rhythmus, Speed und dabei immer auf der Stelle stehn. Die Irrelevanz als Tätigkeitsmotor!

Eine Woche nach der Prassnik-Vernichtung habe ich mir ein Probetraining im Fitnessstudio CrunchFit, Pankstraße, Berlin-Wedding gebucht. Bin hingegangen und habe mir das alles erstmal zeigen lassen. Beim Anblick der Mensch-Maschinen-Gebilde durchfuhr mich der heitere Gedanke, dass genau hier in diesen Studios der Neue Mensch geformt wird. Das ganze Setting ist bis ins letzte Detail auf den größtmöglichen Effekt angelegt, ein funktionierendes System, in dem das Ich zwischen Hebeln, Stangen, Scheiben — also Technik — durchtrainiert und bearbeitet wird. Es wird körperlich von Gegenwartsmaschinen aktiviert und schiebt sich in eine Zukunft.

Ich renne auf dem Laufband und denke: So muss das sein. Rhythmus, Speed und dabei immer auf der Stelle stehn. Die Irrelevanz als Tätigkeitsmotor! Die stumpfe Wiederholung des immer gleichen Schritts, der immer gleich bis zur Erschöpfung gezogene Armzug, die totale Reduktion auf die allereinfachste Form: Das erzeugt körperliche Explosionen, die auch im Hirn neue Signalketten dynamischer Wirkungs- und Sinnzusammenhänge aktivieren.

Unter dem Gewicht der Langhantel zusammengedrückt stöhnt der Boxer, aus der Beinpresse höre ich es pfeifen, im Hintergrund hinter Maschinenwäldern ein gepresstes „Come on“, vor den Spiegelwänden grunzende Bodys und dazu der technoide Sound aus versteckten Lautsprechern, Werbung auf Plasmabildschirmen, Neonleuchten, Spotlights auf Proteindosen, ein unsinniges Hick und Hack an Augen und Blicken, aber alles im Fluss. Die Körper, in denen beim Training an den Maschinen ein beschleunigter zellularer Transformationsprozess abläuft, erscheinen mir auf den zweiten Blick als energetische Formen der realitätsdefinierenden Überproduktion sinnlosester und irrelevantester Dinge und Tätigkeiten, sie sind reine Gegenwart IN PROGRESS, aufgepumpte Körper in Unterhosen.

Vergiss die Sprache, BE BODY.

Fieser Muskelkater beim Aufwachen. Im Wenden des Körpers ein ganz anderes Gefühl. Die Schwere hat sich verteilt. Sie liegt nicht mehr nur im Kopf, ich muss ihn heute nicht mit beiden Händen von der Matte heben. Das macht mich glücklich. Vergiss die Sprache, BE BODY. Die Erfahrung zeigt: Es funktioniert ja so oder so immer nur das Wechselbad. Wie das Auf und Ab des Körpers im Gerät, so muss auch das Denken der Gegenwart strukturiert sein. Der Alkohol trägt seinen Anteil dazu bei, denn er katapultiert mich mit Sicherheit in den Kreislauf aus freudigem Stumpfsinn und elendigem Gejammer über den erneuten geistigen Nullpunkt. Und außerdem ist er der Grund für den neuen Fitnessfetisch. Irgendwie muss ich mich ja auf den nächsten Absturz vorbereiten. Im besten Fall gelingt es mir dadurch, die Zahl zukünftiger Trips noch zu steigern, weiter an der Kaputtheitskurve zu zerren.

Erstmal zu Penny. Am Abend Kino International, Karl-Marx-Allee, Berlin-Mitte, „Blade Runner 2049“. Ich schnippe die Zigarette in die unruhige, von Leuchtschrift durchflackerte Pfütze und stoße die Schwingtüre auf. Wie bei Wikipedia nachzulesen, saßen die DDR-Bosse bei Premieren der DEFA-Blockbuster immer in der 8. Reihe, mittig, weil von dort die Sicht die beste war. Auch die Beinfreiheit war größer. Ich muss leider einsehen, dass die entweder alle blind waren oder, was wahrscheinlicher ist, die Leinwände mittlerweile größer geworden sind. Jedenfalls ist die 8. Reihe total beschissen, weshalb ich mich, noch während die Werbung läuft, nach hinten umsetze. Drei Stunden später überquere ich die Karl-Marx-Allee und bin mir sicher, Ryan Gosling zu sein. Am Tresen in der Bar Babette wartet schon Harrison Ford. Wir lassen uns eine Flasche Johnnie Walker bringen und sprechen im Vertrauen über im Krieg gefallene Frauen.