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Geboren, um auszusterben

Jedes neugeborene Maultier ist automatisch das letzte seiner Art. Schuld an diesem Schicksal ist natürlich: der Mensch.

Es existieren gleich mehrere Gründe, warum der Film „König der Löwen“ so heißt, wie er heißt — und nicht „König der Maultiere“. Neben den offensichtlichen (Maultiere haben nicht ansatzweise so viel Prestige wie Löwen; Rafiki hätte wohl große Schwierigkeiten gehabt, das Maultierjunge Simba dem Volk zu präsentieren) ist es für Maultiere vollkommen sinnlos, auf einen Erben hinzuarbeiten. Sie sind unfruchtbar.

Das Maultier oder auch Muli ist eine Kreuzung aus Hauspferdestute und Hauseselhengst, aus biologischer Sicht ein sogenannter Hybrid. Im Vergleich zu Pferden besitzen sie eine größere Ausdauer, sind belastbarer und damit gute Zug- und Tragtiere und eignen sich darüber hinaus auch hervorragend als Reittier. Der Haken: Jedes neu geborene Maultier ist automatisch das letzte seiner Art. Für Maultier-Scar wäre es also unnötig gewesen, Maultier-Mufasa in die Gnu-Stampede zu treiben. Ganz einfach, weil Maultier-Mufasa gar keinen Sohn bekommen hätte.

Schuld am Schicksal der Maultiere ist natürlich der Mensch. Er züchtet sich seine Nutztiere so zurecht, dass sie ihm zwar perfekt dienen, jedoch keinen nennenswerten Beitrag zur Evolution leisten können. Ganz anders sähe die Geschichte vom König der Löwen nämlich aus, ginge es darin um Schnecken. Befinden sich bei ihnen zwei verschiedene Gattungen in unmittelbarer Nähe, kann es zu Art-Hybriden kommen — natürliche Kreuzungen, durchaus fortpflanzungsfähig und ein Gewinn für die Evolution, da sie möglicherweise Eigenschaften angenommen haben, die ihr Schneckendasein um einiges erleichtern. Der Plot von „König der Schnecken“ könnte entsprechend spannender werden, wenn Schnecken-Scar gegen einen genetisch optimierten Schnecken-Simba ankämpfen muss.

Was nach einem lustigen Spiel mit den Gattungen und ihrem Nutzen klingt, kann bei einem Film mit dem Titel „König der Genmaissorten“ sehr schnell etwas Deprimierendes bekommen. In der Nutzpflanzenwelt ist natürliche Kreuzung längst abgeschafft und ins Labor verlagert worden. Nicht nur bei Mais. Auch bei Weizen oder Sonnenblumen. Jede aktuelle Nutzpflanzengeneration befindet sich auf dem höchsten Stand der Forschung. Da ist nichts vererbt. Und da kann auch nichts vererbt werden.

Denn die besondere Qualität des Zuchtsaatguts hält immer nur für eine Generation. Jede Saison muss neues Saatgut gekauft werden. Denn sät der Bauer die Erträge des Zucht-Saatguts im Folgejahr neu aus, verliert es viele seiner wichtigen Eigenschaften, wie Resistenzen und Höchstertrag. Die Spitze der Evolution, die optimale Saat, ist immer auch das letzte Glied der Kette. Ihr folgen stets nur schlechtere Ernten. Deshalb muss jedes Jahr eine neue Züchtung her. Immer wieder voll optimiert, in dem Wissen, dass sich kein Optimum über Generationen halten lässt.

Zuchtsaat-Scar müsste daher jedes Jahr aufs Neue gegen einen neuen Zuchtsaat-Simba konspirieren. Anstrengend. Kann man sich aber dran gewöhnen. Siehe: der Mensch. Denn uns geht es da sehr ähnlich. Selbst die herausragendsten Generationen scheinen ohne würdiges Erbe. Nie wieder wurde Synthie-Pop so gut wie in den 80ern. Nie wieder funktionierte freie Liebe wie 68, und tanzen kann seit den 20ern auch niemand mehr. Es muss also immer wieder was Neues her. Der Fluch einer jeden Generation.

„Weh dir, dass du ein Enkel bist!“, sagt Mephisto zu Faust. Er meint uns alle, wie wir daran verzweifeln, die großen Schöpfungen der Vorgänger*innen zu sichten, zu ordnen, schlicht zu erkennen. Auf der Suche nach unserem Platz in all dem Wust der historischen Errungenschaften vergangener Generationen. Auf der Suche nach unserer Berechtigung, als die letzte, die großartigste Generation zu gelten. Denn die Behauptung steht im Raum, es sei doch alles schon getan. Ist es selbstverständlich nie. Nur was noch getan werden muss, das muss jede Generation für sich selbst definieren.