Existenzielle Löcher
Die mangelhafte Vorbereitung auf die Zukunft wird von den Planungsextremist*innen als sozialer Defekt identifiziert.
Montagmorgen. Der Terror beginnt in aller Früh, irgendwo auf dem Weg zwischen Kaffeemaschine und Schreibtisch: „Hey, hast du das Facebook-Event gesehen? Hast du noch nicht? RSVP doch mal bitte! Das wäre doch was!“ Draußen auf dem Gang wird eine Kollegin ins Kreuzverhör genommen. Die Planungsextremist*innen haben sie erwischt. Und nicht nur sie. In WGs, Co-Working-Spaces, Kaffeeecken: Überall werden chronisch Unverplante von militanten Planer*innen in geistige Geiselhaft genommen. Wo etwa die Frage nach den Silvesterplänen früher noch für die Wintermonate reserviert war, ist man heutzutage auch beim sommerlichen Picknick am See nicht mehr vor ihr gefeit. Wo die Wochenendpläne unlängst noch wörtlich genommen und erst zum Ende der Woche überprüft wurden, gilt es für die Planungsverweigerer*innen heute bereits am Sonntagabend an den ersten Ausreden zu tüfteln.
Gleichzeitig gibt es selbstverständlich Dinge im Leben, denen würde etwas mehr Planung gut tun: dem CDU-Parteiprogramm zum Beispiel, der Personalpolitik des Hamburger Sportvereins oder meiner privaten Altersvorsorge. Und auch im Alltag kann es sich auszahlen, ein Konzept zu haben. Ist die Pommes rot-weiß von der Currywurstbude wirklich das vollwertige Frühstück, das ich um 5 Uhr morgens brauche, um einen produktiven Restsonntag zu haben? In dieser und anderen Fragen bietet es sich an, den kurzfristigen Nutzen (schmeckt geil) und die langfristigen Folgen (Bauch kaputt) gegenzurechnen und zukunftsfähige Handlungsstrategien zu entwickeln.
Doch wie alles, was gut gemeint ist, läuft auch die Planerei Gefahr, vom Menschen überstrapaziert zu werden. Die mangelhafte Vorbereitung der Unverplanten auf die nahe und ferne Zukunft wird von den Planungsextremist*innen zunehmend als sozialer Defekt identifiziert. Lücken im Kalender gelten nicht mehr als Indiz für persönliche Freiheit, sondern als Hinweis auf existenzielle Löcher im Lebenslauf. Löcher, die zugeschüttet gehören – mit Live-Konzerten, mit Brunch-Verabredungen, mit irgendwas halt, Hauptsache, nicht mit Nichtstun. Kein Wunder, dass der Plan in seiner kleingeschriebenen Form für die Einebnung steht: Der Plan planiert die Zukunft, auf dass sie seiner Umsetzung als Fundament dienen möge. Doch müssen wir uns wirklich schlecht fühlen, weil wir die WG-Party abgesagt haben und der Freitagnacht in wohliger Ungewissheit entgegenblicken? Nein. Eher sollten wir uns um die radikalisierten Planerist*innen kümmern, ihrem missionarischen Eifer entgegenwirken, sie auf Enttäuschungen vorbereiten. Denn wie wusste einst schon Friedrich Dürrenmatt zu berichten? „Je planmäßiger die Menschen vorangehen, desto wirksamer trifft sie der Zufall.“