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Ella, ella, eh, eh, eh

Der Traum, den perfekten Song zu planen, ist so alt wie die Popmusik. Aber weder Hit-Doktoren noch Softwares schlagen die sinnlose Genialität des Irrtums.

Die Schläge für Britney: ein Fehler, kein Blick in den Abgrund, keiner in eine Jugendseele. Wenn Teenager am Vorabend des Millenniums vor ihrem Fernseher saßen und zuschauten, wie Britney Spears im Video zu ihrem Song „… Baby One More Time“ darum bettelte, ein nicht näher benanntes love interest möge ihr noch eine verpassen, mögen sie wilde, vielleicht auch geile Gedanken gehabt haben. Vielleicht glichen sie ihre eigene Not mit dieser Lipglossversion pubertärer Verzweiflung ab, dachten an Selbsthass und seine Grenzen — nur nicht an die Möglichkeit, dass Max Martin sich verschrieben hat.

Der letzte Superstar des alten Jahrtausends wurde durch sorgsamste Planung und fünf Dekaden Hitforschung geboren. Und das finale bisschen Dilettantismus.

Der schwedische Songschreiber Karl „Max“ Martin Sandberg hatte Ende der Neunziger die Aufgabe, einen Songtext zu verkaufen. Also schrieb Martin: über das quälende Gefühl, auf den einen Anruf zu warten. Die Redewendung „hit me up“, englischer Slang für „ruf mich an“, wandelte Martin dabei mangels besserer Muttersprachlichkeit zu „hit me“ ab. Aus Versehen schuf er so einen der ambivalentesten aller Poprefrains, der sowohl Raum für unschuldige als auch grenzlegale Lesarten bietet. Das R’n’B-Trio TLC, das den Song eigentlich singen sollte, lehnte irritiert ab — und machte den Weg frei für Spears. So erzählt der US-amerikanische Journalist John Seabrook die Geschichte in seinem Buch „The Song Machine: Inside the Hit-Factory“: Der letzte Superstar des alten Jahrtausends wurde durch sorgsamste Planung und fünf Dekaden Hitforschung geboren. Und das finale bisschen Dilettantismus.

Der Wunsch, den perfekten Song zu entwerfen, ist so alt wie die Popmusik selbst. In den frühen Sechzigern forschte im New Yorker Brill Building ein Bürokomplex voll talentierter Songschreiber*innen an der Formel für den formvollendeten Popsong. Carole King, Gerry Goffin und ihre Kolleg*innen schrieben Gruppen wie den Shangri-Las ihre größten Erfolge. Auch der ersten Retortenband der Geschichte schenkte der im Brill Building tätige Neil Diamond den Durchbruch: Mit der Single „I’m a Believer“ wurden The Monkees, eine per Zeitungsannonce gecastete Gruppe, als US-Pendant zu den Beatles in Stellung gebracht.

Die Allianz zwischen Stars und ihren Hit-Schreiber*innen, die mit den Monkees und Neil Diamond begonnen hatte, trieben im Laufe der Jahrzehnte Duos wie Max Martin und Britney Spears zur Perfektion, während im Hintergrund die „Artist and Repertoire“-Manager großer Labels schon nach dem nächsten potenziellen Idol fahndeten. Der Musikmanager Lou Pearlman, seinerzeit windigster Windhund im Musikgeschäft, schickte in den Neunzigern mit den Backstreet Boys und der rivalisierenden Gruppe NSYNC singende, tanzende Combat-Teams in die Schlacht um die Liebe aller Teenager*innen. Als man Pearlman einst fragte, wann das Phänomen Boygroup seinen Zenit überschreiten sollte, entgegnete er: Wenn Gott aufhört, kleine Mädchen zu machen. Er sollte Unrecht behalten.

Nun, da selbst die Großen und Glanzvollen im Netz Nahbarkeit inszenierten, behagte der Welt der Gedanke an ausgedachte Bands nicht mehr.

Wollten die Massen zum Beginn des Jahrtausends noch schöne Jungs synchron tanzen sehen oder in Echtzeit verfolgen, wie strenge Drill-Instruktor*innen in Castingshows perfekte Bands und Stars am Reißbrett entwarfen, sollte sich die Sehnsucht nach künstlich verleimten Bands bald legen. Der Hitparadenpop hatte immer ein anderes Verhältnis zur Echtheit als die Rockmusik, in der Authentizität und Autor*innenschaft ähnlich wichtig sind wie der rechte Jeansverschmutzungsgrad. Aber nun, da selbst die Großen und Glanzvollen im Netz Nahbarkeit inszenierten, behagte der Welt der Gedanke an ausgedachte Bands nicht mehr. Die Hitmaschine musste leiser rattern. Oder vielmehr: überhaupt nicht rattern, sondern, einem Prozessor gleich, diskret schnurren.

Heute sitzen die Entscheider*innen nicht mehr in Managersesseln, sondern im Laptopschein. Dank künstlicher Intelligenz kann man vermessen, wie die Songs gemacht sind, denen die Massen verfallen. Aus dem Fundus der Hitgeschichte filtern intelligente Softwares die Eckdaten des Erfolges, basteln Bewährtes nach — und können sogar Genie simulieren: Vor ein paar Jahren gelang es dem Sony Computer Science Laboratory in Paris, eine KI zu programmieren, die Sequenzen im Stil der Beatles komponiert. Die Hitformeln der Algorithmen setzen schließlich oft gigantische Songschreiberteams um. Man muss kein übellauniger Kulturpessimist sein, um zur These zu gelangen: Während die Creditlisten immer länger werden, klingt der Pop im oberen Erfolgsbereich zunehmend ähnlich — weil Menschen Neues wollen, das sie nicht überrascht.

Dabei haben wir doch mit Britney eines gelernt: Ein Hit ist Handwerk, ein Meilenstein nicht zu planen. Nicht der genialste Kopf, nicht die klügste Maschine schlägt die Schönheit des Irrtums und des Irrationalen, die Pop sein Restgeheimnis wahren lässt — ihn am Ende eben doch unterscheidet von allem, was auf der Welt Geld bringt und manchmal für seltsame Formen von Gerechtigkeit sorgt in einer Welt, in der es wenig Gerechtes gibt. Denn als dem Hip-Hop-Songschreiber Terius Youngdell Nash eines Tages, beim Experimentieren im Studio, plötzlich das Wort „Regenschirm“ in den Kopf schoss; als er in der Gesangskabine das Wort „umbrella“ einem Echo gleich wiederholte, ella, ella, eh, eh, eh, sollten diese Silben eigentlich der am frühen Ruhm gescheiterten Britney Spears zu alter Größe verhelfen.

Das Songwriting-Team, das den Welthit „Umbrella“ schrieb, wollte ihren sure shot Mitte der Nullerjahre an Spears verkaufen, wie John Seabrook in „The Song Machine“ schreibt. Aber ihr Label lehnte den potenziellen Welthit ab. Ob Spears den Song je zu Ohren bekam, weiß niemand. Einst war ihre eigene Karriere durch einen Zufall gestartet; nun bescherte der Blitzeinfall eines Mannes und ein Moment der Unachtsamkeit ihres Labels einer anderen Glücksritterin den Durchbruch: der jungen Sängerin Robyn „Rihanna“ Fenty — der Branchengrößen vorher zwei Alben lang erfolglos versucht hatten, den ultimativen Song auf den Leib zu schreiben.