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Ecce Humor!

Nachdem sich Friedrich Nietzsche sein Leben lang mit dem Ernst der Welt herumgeplagt hatte, bringt ihn ausgerechnet eine tödliche Krankheit auf des Rätsels Lösung.

„Zuletzt wäre ich lieber Basler Professor als Gott; aber ich habe es nicht gewagt, meinen Privat-Egoismus so weit zu treiben, um seinetwegen die Schaffung der Welt zu unterlassen.“ — Friedrich Nietzsche

Ganz sicher ist er sich nicht. Umwertung der Werte? Wille zur Macht? Nihilismus? Hatte er das wirklich einmal gesagt, sogar geschrieben und veröffentlicht? Er kann sich fast nicht erinnern. Immer häufiger gehen seine Gedanken mit ihm durch, immer mehr werden seine Aussetzer zur Belastung. Nur eines ist vollkommen klar: Alle bisherigen Versuche, die Existenz des Menschen zu erklären, sind fehlgeschlagen. Nur er, Friedrich Nietzsche, kann in einem letzten Anlauf die Erleuchtung bringen.

„An diesem vollkommnen Tage, wo Alles reift und nicht nur die Traube braun wird, fiel mir eben ein Sonnenblick auf mein Leben: […] Nicht umsonst begrub ich heute mein vierundvierzigstes Jahr, ich durfte es begraben. […] Und so erzähle ich mir mein Leben.“

Es ist der 15. Oktober 1888 und Friedrich Nietzsche findet die Erklärung des Seins in der Absurdität: in der Parodie des Ernstes — im Humor. Er müsste weit ausholen, um dies verständlich zu machen. Am Ende vielleicht sogar sich selbst parodieren.

1888 verschleißt das Deutsche Reich gleich zwei Kaiser; Vincent van Gogh verstümmelt sein Ohr; Bertha Benz fährt mit dem ersten Automobil von Mannheim nach Pforzheim; und für Nietzsche beginnt eine neue Zeitrechnung. Er sitzt in einem kleinen Zimmer in Turin und ist unzufrieden. Erwacht mit der plötzlichen Erkenntnis, göttlich zu sein, fragt er sich: „Hat man mich verstanden?“

Die Antwort seines Jahrhunderts ist Schweigen. Kaum jemand interessiert sich für die Kapriolen dieses seltsamen Mannes aus einem Dorf namens Röcken. Das ist verständlich — sind Nietzsches Thesen zum Umsturz der Moral nicht gerade auf Verständlichkeit optimiert. In imaginären Dialogen mit dem Propheten Zarathustra lehnt er alles ab, was irgendwie als sinnstiftend gilt: den Glauben, die Moral, Gott — eigentlich alle Götter, die je vom Menschen erdacht wurden.

Nietzsche rauft sich die Haare. Der Glaube an die moralischen Werte muss einem Nicht-Glauben weichen. Er sehnt sich nach dem Nihilismus, einem Ursprungsglauben, den er jenseits jeglicher Moral finden möchte. Dies muss er den Menschen irgendwie verdeutlichen. Und genau deswegen „in Voraussicht, dass ich über Kurzem mit der schwersten Forderung an die Menschheit herantreten muss, […] scheint es
mir unerlässlich, zu sagen, wer ich bin.“

Er tippt mit seinem Schreibkiel auf das leere Papier. Seine Gedanken geraten durcheinander. Jetzt gilt es, Ruhe zu bewahren. Der Sinn des Lebens findet sich in einem Zustand vor der Moral. Man muss sie loswerden, diese unsinnige Sittlichkeit, man muss sie auslachen, weglachen. Oder so ähnlich. Nietzsche kritzelt das Wort „Moral“ mehrmals in verschiedenen Schrifttypen auf das Papier. Und muss lachen. Eines der Worte sieht aus wie eine umgekippte Weinflasche. Der Rausch! Mit ihm kehrt der Mensch zurück zu seinem Ursprung. Nur berauscht ist er fähig, sie alle zu widerrufen: Luther, die Aufklärung, Sokrates und Platon; sie zu parodieren, die Moral zu verwerfen, Humor zu finden; und — lustig zu werden.

Schon wieder muss er lachen. Diesmal über sich selbst.

Mit dem Rausch zerfällt alles, was heilig ist. Alles Göttliche verliert seinen Ernst. Wer, wenn nicht Nietzsche, heute morgen erst zum dionysischen Gott des Rausches aufgestiegen, weiß, was es heißt, den göttlichen Ernst zu verlieren. Er ist nur die Parodie eines Gottes. Schon wieder muss er lachen. Diesmal über sich selbst. Wurde er zu seiner eigenen Parodie? Sollte das die Erklärung für seine Theorie der Umwertung aller Werte sein? Dann müssten die Menschen ihn doch verstehen. Aber wer braucht schon die Menschen. Wahrscheinlich haben sie nur Angst. „Die Furcht ist die Mutter der Moral!“ Und die Moral ist das Leittier, dem die Herde folgt.

Nietzsche lässt seine Stirn auf die Tischkante fallen. Diese Tölpel und Flachköpfe, erkennen die Vertierung des Menschen zum Zwergtiere nicht. Von denen braucht er keine Bewunderung mehr, er ist die Bewunderung selbst. Kein Zweifel! Sein Gedanke mündet in einem unerträglichen Ekel vor der Menschheit — und in einer neuen Aufgabe. Ja! Nietzsche springt auf und verlässt hastigen Schrittes sein Zimmer.

„Ich ziehe Orte vor, in denen man frisches Wasser aus Brunnen schöpfen kann.“ Außerdem herrscht ein angenehm gemäßigtes Klima. Fünfzehn Grad Celsius. Die Sonne scheint. In den Straßen tummeln sich die Händler*innen, Bürger*innen, Tourist*innen und Lustwandler*innen. Turin ist eine moderne Stadt, die in der Industrialisierung aufblüht. Nicht ohne Grund hat Nietzsche sich, auf der Suche nach Erholung, diesen Ort im Norden Italiens ausgesucht. Hier sollte es möglich sein, im Schatten der Hügel des Monferrat ein Fazit unter sein monumentales Werk zu meißeln.

Nietzsche stakst mit durchgedrückten Knien und hoch erhobenem Kopf, wie es sich für einen Gott gehört, über die Trottoirs der Stadt. Redet da jemand? „Es redet: — wo? Und wer? Fast ist es mir, als hörte ich mich selber reden.“ Nietzsche spricht mit sich selbst. Besser gesagt, sein Schatten spricht mit ihm. „Ich glaube dich zu verstehen, ob du dich gleich etwas schattenhaft ausgedrückt hast. Genug des Vorredens!“ Man muss „das Ideal eines menschlich-übermenschlichen Wohlseins und Wohlwollens neben alle Art Feierlichkeit in Gebärde, Wort, Klang, Blick, Moral wie deren leibhafteste, unfreiwillige Parodie hinstellen.“ Nietzsche grinst pausenlos und schüttelt energisch den Kopf. Sein Schatten macht sich offenbar über seine neue Gotthaftigkeit lustig. Er fordert ihn auf, die Parodie praktisch zu erproben. Vor ihm kreuzt ein Mann in schwarzem Umhang und eckiger Kappe seinen Weg. Ohne Zweifel ein Geistlicher. Nietzsches Züge hellen sich auf: Dieser würdevolle Ernst erzwingt die Parodie ja geradezu.

Seine breiten Schultern hat der Geistliche in einen schweren Umhang gehüllt. Er lächelt und geht mäßigen Schrittes mit gefalteten Händen die Straße hinab. Nietzsche kommt von hinten heran, legt ihm die Hand auf die Schulter: „Sind wir zufrieden?“ Der Geistliche ist verwirrt. „Ich bin Gott, ich habe diese Karikatur gemacht.“ Dabei breitet Nietzsche die Hände aus und tut, als hinge er am Kreuz. „Die Welt ist verklärt und alle Himmel freuen sich. — Der Gekreuzigte.“ Spätestens jetzt verfinstert sich das Lächeln des Geistlichen. Hatte er die Parodie nicht erkannt? Nietzsche sieht dem Flüchtenden hinterher.

Nein. So geht es nicht. Die Theorie ist noch zu roh, als dass sie in der Praxis funktioniert. In der Überzeugung, die nächsten Generationen werden es besser beherrschen, laute Stimmen mit feinen Gedanken zu verbinden, beruhigt sich Nietzsche ein wenig. Seine Schritte werden leichter. Die Gedanken gehen wieder in geordneten Bahnen. Dennoch sehnt er sich nach Ruhe. Vielleicht findet er sie in kleineren Gassen.

Noch immer stelzt er mit gestrecktem Fuß über das Pflaster. In den Nebenstraßen sind die Erdgeschossfenster auf Augenhöhe. In der Reflexion erscheint ihm sein eigenes Konterfei. Doch erkennt er nur sich selbst. Keinen Gott. Nur einen Mittvierziger mit buschigem Schnauzbart und durchdringendem Blick. Übelkeit steigt ihn ihm auf, sie ist stärker als das göttliche Licht, das ihn umgibt. Ist es die Krankheit? Er stürzt auf die Knie, und von allmächtigen Krämpfen geschüttelt, hält er sich beide Hände vor den Mund.

Zwei kleine Mädchen schlendern singend die Gasse entlang. Als sie Nietzsche erblicken, bleiben sie wie erstarrt stehen. Hypnotisiert vom krankhaften Blick des seltsamen Mannes, der ihnen den Weg versperrt, schauen sie mit weit geöffneten Augen regungslos dem knienden Nietzsche in sein verzerrtes Gesicht. Plötzlich prusten sie, lachen, laut und herzlich.

Aus voller Seele strömt ihre Fröhlichkeit auf den verwirrten Nietzsche hernieder. Sollten diese beiden Mädchen alles verstanden haben? Haben sie die Absurdität des Seins ganz durchdrungen? Schütteln sie sich in Freude über die Erkenntnis des Nichts? Die Parodie eines Gottes stürzt in sich zusammen und auf den Gesichtern dieser Halbwüchsigen ist nichts als Freude, Humor und durchdringendes Verständnis. Nietzsche rappelt sich auf und stolpert davon. Im Vorbeigehen kann er ihnen gerade noch zurufen „Nichts ist wahr. Alles ist erlaubt!“ Ob sie ihm hinterher blicken, interessiert ihn nicht mehr. Er flüchtet in seine Kammer. Sein Pathos ist schwer gestört.

Kaum am Schreibtisch sitzend, ereilt ihn vollkommene Ausdruckslosigkeit. Wie könnte er das Verständnis der Mädchen, ihren Sinn für Humor in Worte fassen? Er vergisst seinen Sturz und erinnert sich nur noch an seine dionysische Göttlichkeit. „Ich denke, mit einem solchen Zustand ist man reif zum Welt-Erlöser.“ Mit dem Schreibwerkzeug in der Faust, genau in diesem Augenblick, verflüchtigt sich sein Geist. „Alles ist fertig! Ich treibe eigentlich nur Possenreißerei, um über eine unerträgliche Spannung und Verletzbarkeit Herr zu bleiben.“

Eine allumfassende Frage bemächtigt sich seines Denkens. Ist er nun Gott oder Mensch? Er weiß es nicht. Er ist nur noch fähig zu beantworten, warum er so weise ist, warum er so klug ist und warum er so gute Bücher schreibt. Er lehnt sich zurück. Er scheint zufrieden. „Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit!“, fasst er zusammen. Mit Abschluss seiner nach Erklärung suchenden Autobiografie ist er sich sicher: In Zukunft werden seine Thesen alle Werte umgekehrt und ihren Ernst durch die Parodie vernichtet haben. Vorsichtshalber fügt er noch ein Kapitel hinzu: „Warum ich Schicksal bin“.

„Ich kenne die Lust am Vernichten in einem Grade, die meiner Kraft zum Vernichten gemäß ist, — in beidem gehorche ich meiner dionysischen Natur, welche das Neintun nicht vom Jasagen zu trennen weiß. Ich bin der erste Immoralist: damit bin ich der Vernichter par excellence. —“

Glaubt man den Berichten, begibt sich der selbsternannte Vernichter am 3. Januar 1889 erneut in des Getümmel der Turiner Straßen. Den Kopf voller Empfehlungen seines Schattens, dionysisch verklärt, erblickt er, wie ein Kutscher sein Pferd mit Peitsche und hartem Wort zum Vorangehen drängt. Zutiefst getroffen, bricht Nietzsche in Tränen aus und fällt wehklagend dem Pferd um den Hals. Dieses Ereignis gilt als der endgültige Zusammenfall seines Geistes.

Nicht bestätigt, nur angenommen per Ferndiagnose, geht die Forschung von einer progressiven Paralyse als Folge von Syphilis aus. Einmal im Stadium Neurolues angekommen, wirkt sich die Krankheit äußerst stark auf die kognitiven Fähigkeiten aus. „Ich mache so viele dumme Possen mit mir selber und habe solche Privat-Hanswurst-Einfälle, dass ich mitunter eine halbe Stunde auf offener Straße grinse“, lautet eine seiner letzten Selbstanalysen.

Es sind womöglich diese Hanswurstiaden, denen er sich ab sofort verpflichtet fühlt. Das Bild von sich als zerstörender Gott des Rausches scheint zu verfliegen. „Ich will kein Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst.“ Und hat man ihn mittlerweile verstanden? Glaubt man an ihn? Am Ende will er es selbst nicht: „Ich will keine Gläubigen. Ich habe schreckliche Angst davor, dass man mich eines Tages heilig spricht.“ Friedrich Nietzsche stirbt am 25. August 1900 in Weimar. Heilig wurde er nie, verstanden vermutlich auch nicht. Für Humor sorgen wird er weiterhin.