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Digitale Nihilist*innen

Geert Lovink hat sich vor 10 Jahren an einer Zeitgeistanalyse im Netz versucht und festgestellt: Alles wird nichtig. Endlich.

Ein Theorieschnipsel zu Geert Lovink.

Das Internet kam in der Medientheorie lange nur als Heilsversprechen vor, als große politische Hoffnung. Brechts Radiotheorie sollte mit seinem Folgemedium, dem Netz, endlich wahr werden: Jede*r könne ungehindert mit jeder*m sprechen und alle mit allen. Der Diskurs würde demokratisiert, die Aufklärung hätte ihre letzten Fesseln des trägen Papiers und des einseitigen Rundfunks abgeworfen.

Geert Lovink sieht das alles anders. 2007, also vor etwa 100 Jahren in Internetzeit, schrieb der holländische Netztheoretiker den Text „Blogging — der nihilistische Impuls“. Blogging war damals noch groß. Worüber er aber eigentlich sprach, war: „kurz mittels eines Links auf Nachrichten zu verweisen und mit wenigen Sätzen zu ergänzen.“ Also genau das, was wir alle seit Facebook oder Twitter täglich in unseren Timelines tun.

Mit dem Fortschritt der Technik und der Verbreitung des Microbloggings (das Wort kennt heute niemand mehr) in den sozialen Medien gewinnen auch Lovinks Einsichten eine neue Reichweite. Der „nihilistische Impuls“ trifft nicht mehr nur eine überschaubare Gemeinde von sendungsbewussten Blogger*innen, sondern auf einmal alle und jede*n in den sozialen Medien. Jeder Digital Native wird zum Digital Nihilist.

Lovink glaubt an eine Demokratisierung der Medien durch das Internet und ja, auch an die Aufklärung und ein bisschen auch an die Medienrevolution. Vor allem ist Blogging für ihn aber eins: Trivialisierung. Seine Erkenntnis: Das Internet macht uns unpolitisch und sarkastisch. Bedauerlich, wie Lovink findet, aber philosophisch notwendig.

Anders als erhofft, stellt Lovink fest, ist vom Revolutionspotenzial der neuen Technik in der Blogosphäre wenig zu erkennen. Die meistgelesenen Blogs sind politisch konservativ. Überhaupt bietet der Netzdiskurs wenig Eigenes oder Neues. Die meisten Beiträge beschränken sich auf einen Kommentar zu Nachrichten aus den etablierten Medien, aus Print, Fernsehen und Rundfunk.

Dem Netzdiskurs scheint es weniger um eigene Ideen zu gehen als um Einordnung bestehenden Wissens — vor allem anhand persönlicher Erfahrungen und Meinungen. Der rationale Diskurs der Leitmedien wird im Netz emotional flankiert. Blogs setzen dem zentralistischen Rundfunk und Print die epidemische Reichweite des Affekts entgegen. Im Netz verbreitet sich, was die Menschen rührt und empört, nicht, was faktisch richtig ist.

Lovink verstand die Fake News schon, bevor sie einen Namen hatten. Das Ergebnis sei eine dichte Wolke aus Emotionen, die das ursprüngliche Thema umhüllt und seine sachliche und rationale Grundlage vernebelt.

Die „Wahrheit ist zu einem Projekt von Amateuren geworden“, konstatiert Lovink. Wahrheit ist damit nicht mehr an Fakten gebunden, sondern an ihre emotionale Plausibilität. Wahr ist, was sich für möglichst viele wahr anfühlt. Das ist keine Verführung, das ist das offene Spiel der Blogosphäre. Sender wie Empfänger haben sich auf eine emotionale Diskursebene geeinigt, alle wissen, worauf sie sich einlassen. Wahrheit ist ihnen egal. Fakten sind kein Argument. Der Diskurs ist zynisch geworden.

Das heißt, Zynismus ist mehr als ein Gebaren, es ist, wie Lovink sagt, längst ein „techno-sozialer Zustand“. Damit ist jedoch keine Gleichgültigkeit gemeint, der Zynismus ist nur ein notwendiges Eingeständnis gegenüber der instabilen und unüberprüfbaren Faktenlage. Wer weiß schon, was stimmt? Und ist das überhaupt wichtig? Fragen sich die Zyniker*innen.

Sie haben sich abseits jeder Ideologie eingerichtet, abseits der Ideale von Rationalität und Produktivität. Sie akzeptieren die Nichtigkeit des ganzen Diskurses. Die Instabilität des Wissens ist für sie keine Enttäuschung mehr, sondern die erste Regel des Spiels. Der Nihilismus hat sich mit der Vielfalt der Bedeutungen arrangiert, er erkennt die Unmöglichkeit jeder Opposition. Die Kritik ist für ihn längst konservativ und affirmativ geworden, sie bejammert nur noch Wertverluste und fordert keine Wertgewinne mehr. Woher sollen die auch kommen? Der vernetzte Diskurs kennt keine Erkenntnisanker, keine ontologischen Häfen. Jede Behauptung ist immer schon so gut wie widerlegt.

Für seine Pointe holt sich Lovink die Religionswissenschaftlerin Karen Carr zur Seite. Sie beschreibt den*die Nihilist*in als Individuum, „das in reflektierter Konfrontation mit einer bedeutungslosen Welt lebt und ihre Macht nicht leugnen, ihr aber auch nicht unterliegen will.“ Die Tragik der Digital Nihilists ist, dass sie den Unsinn aller Wahrheit erkennen, weil sie wissen, wie sie produziert wird — weil sie selbst Teil der Diskursmaschine sind, die sie herstellt.

Aus dieser unmöglichen Position schimmert Lovinks Hoffnung. Die zynischen Digital Nihilists sollen endlich in der Lage sein, mit ihrer ständigen Moserigkeit alle falschen Glaubenssysteme zu unterwandern und außer Kraft zu setzen. Eigentlich sei ihre „Snarkiness“, ihre sarkastische Gereiztheit, der einzige Modus, den Verlust der Wahrheit erträglich zu machen. Logisch, dass die ständige Unterwanderung aller Rationalität und Theorieentwicklung nur eine Richtung kennt: vernichtende Irrelevanz — die vielleicht letzte Wahrheit des Diskurses.