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Die technologische Singularität

Werden die Maschinen wirklich schlauer als die Menschen?

Er wird kommen — so wird es allseits gerne versprochen —, der Moment, wenn Computer endlich schlauer sind als Menschen, mindestens jedoch genauso schlau. Damit hätten wir uns dann endgültig selbst überflüssig gemacht. Einen Namen hat dieser Moment auch schon, ein klares Zeichen dafür, dass seine Ankunft unausweichlich ist: technologische Singularität.

Es ist nur noch eine Frage der Zeit. Die war es auch vor 50 Jahren schon, als sich die ersten Stimmen erhoben, die in jenen wohnzimmergroßen Relaisschränken dieser Zeit nahezu unheimliche Potenziale zu entdecken meinten. Gerade erst hatte man dem Rechner das Spiel Tic Tac Toe beigebracht und ihm damit einen ersten Sieg gegen den Menschen ermöglicht. Lange konnte es also nicht mehr dauern, bis diese Maschine auch alle anderen Aufgaben und Fragen des Lebens besser beantworten konnte als seine Erschaffer*innen. Nicht nur, ob Kreis oder Kreuz.

Allein über das genaue Datum, zu dem dieses Groß-, vielleicht Größtereignis fällig sein sollte, wurde man sich nie so ganz einig. Vielleicht ist es auch deshalb immer noch nicht eingetreten. Klar ist nur, dass man sie früher erwartet hätte, diese Singularität. Vielleicht, so hoffte man, pünktlich zum Jahre 2000. Diese Zahl wäre ja auch leicht zu merken gewesen. Wegen unerwarteter Verzögerungen schob der Mathematiker Vernor Vinge das Projekt 1993 — kurz vor Fristende sozusagen — jedoch noch eine Weile auf. Spätestens in den 2020ern sollte es dann aber so weit sein mit der Supermaschine. Derzeit rechnet die breite Anhängerschaft dieser Theorie eher mit der Mitte des aktuellen Jahrhunderts.

Das Projekt, den Menschen intellektuell zu überholen, scheint schwieriger als erwartet. Und das, obwohl die Technik bisher Größtes zu leisten vermochte. Keine*r hätte in den 60er Jahren damit gerechnet, dass Computer heute relativ zuverlässig das Wetter berechnen oder Genome entschlüsseln können. Alles viel mehr, als man sich erhoffte, nur die Simulation des menschlichen Denkens will einfach nicht hinhauen.

Vielleicht hat man sich zu spät gefragt, was das eigentlich sein soll, dieses menschliche Denken. Das kann uns nämlich bis heute keiner überzeugend erklären und auch die bunten Bilder der Neurophysiolog*innen bringen das Verständnis wenig voran: „Das ist rot, da denken Sie gerade.“ Aha.

Die Theorie der technologischen Singularität hat ein entscheidendes Problem. Sie geht davon aus, dass Rechnen und Denken — also die Operationsweisen von Mensch und Maschine — das Gleiche seien. Für diese Vermutung gibt es bis heute leider keinerlei Anlass. Klar können Menschen auch rechnen, verglichen mit der Technik aber recht schlecht. Wenn man tatsächlich in der gleichen Disziplin gegeneinander antreten würde, müsste der Mensch schon längst überholt sein.

Man muss den Eindruck gewinnen, etwas fehle in dieser Gleichung. Menschen scheinen ihre Vorstellungswelt nicht zu berechnen. Im Gegenteil, sie denken vornehmlich in Ungenauigkeiten, und — wie man bei genauerem Nachfragen häufig feststellen muss — in absurden Widersprüchen. Uneindeutigkeiten und Paradoxien sind leider Dinge, die ein Computer schlecht verträgt. Er kennt nur 1 oder 0, Alternativen gibt es nicht.

Irgendwas an diesem Ungenauen und Widersprüchlichen, das wir Menschen uns gerne gegenseitig zum Vorwurf machen, scheint uns also erst das zu ermöglichen, was wir Denken nennen. Vielleicht hat das etwas mit unserer Welt zu tun, die — wie wir spätestens seit Kurt Gödel und Max Planck wissen — auch nicht ohne Widersprüche und Ungenauigkeiten zu funktionieren scheint. Wir dürfen also beruhigt sein. Die Maschine überholt uns nicht, es sei denn, sie würde endlich etwas ungenauer und widersprüchlicher arbeiten. Aber welcher Mensch würde eine solche Maschine bauen?