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Die Auster öffnet und schließt sich

Affen, Perlen, U-Boote. Meistens wissen die Menschen nicht, wovon sie reden. Eine Expedition zu drei semantischen Verirrungen.

Auf dem Nährboden der semantischen Schwammigkeiten sitzt ein einsamer Menschenaffe und weint.
Selbst da, wo nicht mal der Duden weiß, ob es das oder der Dschungel heißen soll, wird man mit einem hässlichen Namen zum Gespött der Artgenossen.

Dem traurigen Primaten bleibt darum nichts anderes übrig, als den ganzen Tag mit den Menschen zu verbringen, die sein Unglück verursacht haben: Seine Eltern, beide Wissenschaftler, hatten es dabei so gut gemeint und einfach nur versucht, bei seiner Taufe so präzise wie möglich zu sein. Sein Name: Gorilla gorilla gorilla. Korrekt benannt nach Gattung und Art, um den westlichen Gorilla gorilla von seinem sozialistischen Bruder Gorilla beringei abzugrenzen.

Für die anderen Dschungelbewohner ist nicht erkennbar, dass hier ein und dasselbe Wort, dieselbe Verbindung von Zeichen, eigentlich drei verschiedene Inhalte anzeigt. Für sie ist der Dreiklang nicht nur unlesbar, sondern vor allem lächerlich, ein willkommener Schulhofwitz. Präzisionslust ist in Bezugsverlust gekippt, und die Wissenschaft ist hier nicht nur zur Mutter eines traurigen Affen, sondern eines semantischen schwarzen Lochs geworden.

Wir werden also nie erfahren, wie die Dinge „wirklich“ heißen.

Dass es diese Beziehungsprobleme gibt, ist spätestens seit den Erkenntnissen des Schweizer Sprachwissenschaftlers Ferdinand de Saussure klar: Bedeutungen sind nicht notwendig mit Buchstabenketten und noch viel weniger mit den Objekten verbunden, auf die sie sich angeblich beziehen. Wir werden also nie erfahren, wie die Dinge „wirklich“ heißen.

Weil wir deswegen aber nicht aufhören wollten zu reden, haben wir uns schon seit einigen Jahrzehnten auf einen pragmatischen Umgang mit dem ganzen Dilemma geeinigt, die Sprache als kulturelles Konstrukt akzeptiert und lieben gelernt und einfach so getan, als ob wir Aussagen über die Welt machen könnten …

Aber wie der traurige Fall des Gorillas zeigt, sind mit diesem Kniff längst nicht alle weißen Flecken aus der Sprache verschwunden. Innerhalb des akzeptierten Konstrukts sammelt sich der semantische Müll aus Phrasen und Wörtern, deren Bezug zur Welt auf eine andere Art gestört ist und die darum in ihrer Kommunikationsabsicht nicht funktionieren: menschengemachte Bedeutungsleere — meist wider besseres Wissen und voller Inbrunst produziert.

Gefährlich wird sie dort, wo die genaue Gegenbewegung zur wissenschaftlichen Sprachbemühung passiert — nämlich dort, wo man sich um die Konkretisierung herumschlängelt. Zum Beispiel in der Hamburger Hafencity.

Hier diskutiert die Chefetage von Vodafone mit externen Beratern über die Architektur und Innenausstattung ihres neuen Bürogebäudes. Der Dokumentarfilmer Harun Farocki hat die Meetings in seinem Film „Ein neues Produkt“ begleitet, und in seinem Zusammenschnitt wird eine Sache so überdeutlich, dass es den Betrachter fast körperlich verrückt macht: 40 Minuten wird geredet, 40 davon wird nichts gesagt.

So wie das Großraumbüro, das die Berater planen, mit seinen flexiblen Arbeitsplätzen im open space kein Platz mehr haben wird für Fotos der Familie, Blumengeschenke oder die Überraschungsei-Figuren-Sammlung, gibt es auch in den Sätzen der Meetings keinen Platz für die konkreten Mitarbeiter*innen. Auch nicht für Tische, Drehstühle oder ergonomische Mäuse.

Stattdessen reden sie über Individualgrad, Chancenevaluierung und Workflowoptimierungen und nicken sich mit ihren rasierten Pausbäckchen zu, weil sie wissen, dass „freie Wahl des Arbeitsplatzes eine Entwicklung ist, die in der Gesellschaft zu sehen ist“.

Punkt.

Ihre Sätze brechen zuverlässig da ab, wo sie konkret werden müssten. Sie sind nichts weiter als große Posen, die sich auf Flipcharts nur in weitere Abstraktionen übersetzen lassen. Aber selbst der eigens dafür engagierte Visual Facilitator hält sie nicht davon ab, hier und da selbst nochmal ein Bild zu zeichnen. Mit Sprache, versteht sich:

„Manchmal sind ja so Metaphern ganz schön. Wenn ich also bereit bin, bei diesem Bild der Muschel […] zu bleiben, was ist denn das Wichtige, das Schöne an der Auster? Unter anderem?“
„Dass sie gut schmeckt.“
„Ja, aber was passiert bei der Auster noch? Wir wissen es alle.“
„Sie öffnet und sie schließt sich.“
„Ja, und dann passiert manchmal was?“
„Perle.“
„Da kommt eine Perle rein. Und was ist eigentlich die Perle? Die Perle ist, weil sie sich geöffnet hat, eigentlich eine Verletzung der Auster. Es kommt ein Sandkorn rein, dadurch verletzt sie sich, aber daraus entsteht eine Perle. […] Wichtig ist es, die eigene Bereitschaft zu öffnen. Das ist auch eine Führungsaufgabe. Der Sinn muss einfach da sein.“

Die Perle ist, weil sie sich geöffnet hat, eigentlich eine Verletzung der Auster.

Die ganze Lächerlichkeit dieser Dialoge wird den Betrachter*innen natürlich erst durch Farockis Schnitt in der Isolation dieser Sprechweisen bewusst. Aber ohne den Kunstgriff, ohne die Qual dieser 40 Minuten, würden sie vermutlich treudoof nickend vor diesen Männern sitzen, sich von ihrem Singsang einlullen lassen und dabei zusehen, wie in den verglasten Büros Tonnen von Energie einfach verpufft, noch bevor ein einziger Presslufthammer losgelegt hat. Gerade deswegen ist es wichtig, dass ab und zu mal ein Dokumentarfilmer oder ein französischer Philosoph durchs Bild läuft und mit dem Finger ins Nichts zeigt.

Wem es nicht reicht, etwas nur gezeigt zu bekommen, und trendbewusst lieber selbst bastelt, der kann an dieser Stelle ein paar Schiffe versenken.

„U-Boot“ steht in der Bibliothekswissenschaft synonym für fingierte Lexikonartikel, die die Schreiber*innen heimlich in ein Wörterbuch geschleust haben. Die erklärten Begriffe sind frei erfunden, aber verweisen nicht selten auf ganze fiktive Welten. Da aber weder die richtige Welt noch ein anderer Eintrag im Lexikon seinerseits zurückverweist, lässt er sich überhaupt nur zufällig finden. Der Eintrag unterläuft damit den herkömmlichen Gebrauch dieses Buches, das eigentlich überhaupt nur über Referenzen funktioniert. Und er unterläuft noch zusätzlich den herkömmlichen Gebrauch von niedlichen Hobbys oder eigentlich überhaupt allem, das man sonst nur für den Applaus auslebt.

Die U-Boot-Fahrer*innen haben in der unscheinbarsten Ecke das System gestört und das Raum-Zeit-Bedeutungsproduktions-Kontinuum außer Kraft gesetzt und wollten damit nicht mal eine Revolution starten. Einfach nur so. The real carpe diem shit. Der Baum, den nur ganz vielleicht jemals jemand beim Fallen hört.

Was man von diesen Bastler*innen lernen kann, ließe sich auch direkt auf ein T-Shirt sticken: Luftschlösser sollte man nur dann bauen, wenn man darin spielen will. Nicht in Naturschutzgebieten oder neben der Elbphilharmonie.