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Der digitale Frühling

Am Anfang stand ein kurzes Video über das dramatische Schicksal des Tunesiers Mohamed Bouazizi. Es zeigte eine andere Wahrheit als die etablierten Medien. Grund genug für eine Revolution.

Mohamed Bouazizi verkauft für wenige Dinar Obst und Gemüse auf der Straße. Die Einkünfte reichen kaum aus, um seine Mutter und die Geschwister zu versorgen. Regelmäßig wird er von der Polizei drangsaliert. Sie behaupten, ihm fehle eine Konzession, doch die ist offiziell gar nicht nötig. Die Stadtverwaltung will ihm nicht helfen. Im Gegenteil: Die korrupten Polizist*innen kosten ihre Macht aus. Sie beschimpfen und beleidigen ihn. Sie beschädigen seine Waren und schließen seinen Straßenladen. Am 17. Dezember 2010 schlägt ihn eine Polizistin ins Gesicht. Bouazizi erträgt die Demütigungen nicht mehr. Der 26-Jährige begibt sich vor das Rathaus der tunesischen Stadt Sidi Bouzid. Er übergießt sich mit Benzin und zündet sich an. Der Selbstmord wird zum Fanal der Revolution.

Schon lange schwelt in Tunesien die Unzufriedenheit. Die Brotpreise steigen, es gibt immer weniger bezahlte Arbeit. Selbst einfachste Lebensverhältnisse sind für viele nicht mehr bezahlbar. Gebildete, junge Menschen verbinden sich deshalb zunehmend in digitalen Netzwerken. Sie treten Gruppen bei, die sich für die Stärkung der Frauenrechte einsetzen, die Korruption im Land kritisieren und ihr Recht auf freie Meinungsäußerung einfordern. An diesem Tag vereint sie alle ein Name.

Mohamed Bouazizi hat den unerträglichen Zuständen ein Zeichen gesetzt: So wollte er nicht mehr leben. Sein Name flutet binnen Stunden die Online-Netzwerke. Tags, Tweets und Quotes jagen durch das Netz und greifen bis in seine feinsten Adern aus. Die Solidarität ist groß, die Diskussionen heizen sich auf — aus Mitgefühl wird Empörung. Was sich zuvor als loser Verband von Interessengruppen über die Weiten des Internets verstreut hat, findet in der gemeinsamen Entrüstung zusammen.

Die wenigen Bilder und Berichte, die nach dem Ereignis nach außen dringen, stammen nicht von offiziellen Reporter*innen. Nur ein paar Minuten nach der Selbstverbrennung Bouazizis nehmen Bekannte ein Video von der Unglücksstelle auf. Anlässlich seines Todes am 5. Januar 2011 veröffentlichen sie es auf der Internetplattform Youtube.

Diese Bilder passen nicht in die Nachrichten, denn sie schockieren — sie bewegen und beleben das tiefste Innere der Zuschauenden. Was hier gezeigt wird, ist nicht nur ein technisches Abbild der Ereignisse. In diese Bilder sind Emotionen eingeschrieben. Die Kamera wackelt, der Blick schwenkt unsicher von der aufgebrachten Menge zum leeren Marktstand. Der Kameramann und ein Passant tauschen ratlose Wortfetzen aus. Rufe ertönen aus der Menge, der Wind rauscht durch die Straßen vor der Stadtverwaltung. Die Bilder lassen nur erahnen, was sich in den folgenden Tagen in diesen Menschen entladen wird: Verbitterung, Wut und der unbedingte Wille, etwas zu verändern.

Bouazizis Tod bahnt sich seinen Weg zu einer globalen Öffentlichkeit, die ihm kein Sender hätte verschaffen können

Der Ort, an dem wir diese Aufnahmen finden, ist keine gesteuerte Mediathek oder gar der Livestream der Tagesschau. In den Nachrichtenanstalten geht es nicht um Emotion, um persönliche Eindrücke und Empathie. Die offiziellen Kanäle sind der Objektivität verpflichtet. Ihr Ziel ist die abgeklärte Berichterstattung. Doch dieses Ereignis lässt sich nicht im sterilen Format einer dpa-Meldung erfassen. Bouazizis Tod geistert als roher Videoschnipsel durchs Netz. Er drängt sich durch die dichte Blogosphäre, bahnt sich seinen Weg zu einer globalen Öffentlichkeit, die ihm kein Sender hätte verschaffen können.

Der fehlende Rahmen, die inoffizielle Quelle, sie lassen eine Unmittelbarkeit zu, die das Geschehen in der fernen Provinz ganz nah erfahrbar macht. Diese Nachricht hat keinen Einfluss auf unser alltägliches Leben. Sie betrifft uns nicht — aber sie trifft uns. Abgestumpft von der täglichen Bilderflut aus Fernsehen und Zeitungen, erscheinen gerade diese zufällig gefundenen Bilder in einem neuen Licht. In ihrer Rauheit wirken sie authentischer als die gefilterten und geglätteten Aufnahmen, die uns täglich erreichen. Es sind nicht die Fallschirmkorrespondent*innen, die für die Story über dem Krisengebiet abgeworfen wurden, die uns Bericht erstatten. Es ist der Betroffene vor Ort, der uns seine persönliche Geschichte erzählt.

Doch bald werden auch die Zeitungen darüber berichten. Über die Todesfälle, die Proteste und die Facebook-Revolution. Das soziale Netzwerk steht stellvertretend für diejenigen Online-Medien, über die sich die Wut der Menschen kanalisieren konnte. Die technischen Möglichkeiten des Internets eröffnen einen neuen Spielraum, einen Raum, in dem offizielle Kanäle einfach umgangen werden können. Aber auch einen Raum, in dem sich die Kommunikation beschleunigt, weil die einzelnen Informationen nicht mehr vorselektiert werden müssen. Keine Redaktion braucht Zeit, um abzuwägen und auszuwählen. Die Nachricht findet allein ihren Weg. Was interessiert, verbreitet sich.

Es sind nicht mehr die Gesamtbilder, die von Journalist*innen aus den Ereignissen geknüpft werden. Im Internet verbreitet sich die Botschaft eines*r Einzelnen, die stellvertretend für viele andere gilt. Eine Handykamera, ein Rechner und der Internetzugang reichen aus, um ein Millionenpublikum zu erreichen. Das globale Netz stellt Formate bereit, die nur auf Inhalte warten, die sie verbreiten können. Zittrige Handyvideos, Blogeinträge, SMS- und Twitter-Nachrichten: Informationen werden nicht mehr einseitig von einem Programm ausgestrahlt, sondern zeitlich unabhängig auf Anfrage oder sogar gleichzeitig mit dem Ereignis empfangbar.

Die Nachricht findet allein ihren Weg

Jedes noch so unscharfe Video einer Demonstration stiftete in Tunesien an anderen Orten zu weiteren Aktionen gegen die Regierung an. Jeder Tweet konnte irgendwo ein Fass zum Überlaufen bringen. Diese Instant-Messaging-Revolution brachte die zentrale Bedeutung von konventioneller Berichterstattung endgültig ins Wanken. Plötzlich erschienen die Videos auf allen Kanälen, sie waren nicht nur die authentischste, sondern häufig die einzige Informationsquelle aus dem Geschehen. Näher dran konnte man nicht sein. Jeder nachträgliche Bericht oder Interviews mit verzweifelten Angehörigen wirkte dagegen vermittelt, aufbereitet und entschärft. Diese Bilder waren „echt”, sie zeigten das wirkliche Leben.

Was hier geschah, waren — trotz der Verbreitungsgeschwindigkeit und der unmittelbaren Zugangsmöglichkeiten — Kommunikationsakte in einem sehr ursprünglichen Sinn. Zumindest, wie der Medientheoretiker Vilém Flusser sie versteht: Wir kommunizieren, um unserem Leben eine Bedeutung zu geben. Als menschliche Wesen sind wir uns unserer Endlichkeit bewusst und müssen in der kurzen Zeit, die wir uns auf diesem Planeten befinden, kommunizieren, um ständig einen neuen Sinn darin zu finden. Kommunikation im Angesicht des Todes sozusagen. Mit allerlei Werkzeugen beschleunigen, vervielfältigen und synchronisieren wir diese Kommunikation — in Zeiten des Ausnahmezustands werden Smartphones zu strategischen Waffen.

Denn auch während des Arabischen Frühlings ging es ums Überleben: das der Revolution. Was kommuniziert werden musste, war die Wirklichkeit der Straße. Persönliche Bilder aus den Reihen der Protestierenden stellten sich der gesteuerten Berichterstattung der Paläste in den Weg. Jeder Zuschauer sollte verstehen, was geschieht, in welch auswegloser Situation sich die Unterdrückten befanden. Gleichzeitig verschwand die schwierige Frage nach objektiver Berichterstattung hinter den imposanten Impressionen aus dem Krisengebiet: Menschen, die ihr Recht auf Versammlung einfordern, werden vertrieben; ein Bild, das sich selbst erklärt, ganz subjektiv. Diese höchst parteiische Kommunikation abseits etablierter Medien schafft klare Botschaften, sie stiftet Sinn in Momenten größter Emotionen und Umwälzungen. Ihre Aussage: Gegen diese Ungerechtigkeit einzutreten, das ist jetzt dein Leben. Doch um diesen Sinn sichtbar zu machen, brauchte es die Werkzeuge. Es brauchte ein Bewusstsein für das stetig drohende Ende der Bewegung, um sie immer wieder neu mit Bedeutung zu beleben.

Was kommuniziert werden musste, war die Wirklichkeit der Straße

Die Aufnahmen, die nach Mohamed Bouazizis Selbstverbrennung entstanden, sind in ihrer rauen Einfachheit eindrücklicher als jeder nachträglich produzierte Beitrag mit trauernden Müttern und Geschwistern. Dennoch wiegt das journalistische, scheinbar unbeeinflusste Wort bei uns weiterhin schwer. Noch immer hängen wir an den Vor- stellungen einer objektiv herstellbaren Wahrheit. Die kanalisierte Berichterstattung der Massenmedien gibt einen Überblick, sie versucht eine sinnvolle Erklärung zu finden. Der Eindruck des Videoschnipsels schafft einen ganz anderen Sinn, einen „Sinn des Lebens”. Seine subjektive Emotionalität stiftet kein Verständnis, sie will den Zuschauer überzeugen. Die sozialen Medien sind nah am Geschehen, aber noch näher am Nutzer. Sie bringen dem Leben eine Bedeutung, die anderswo womöglich nicht zu finden wäre.

Wenn aber die Objektivität als Kriterium für Wahrheit bei den sozialen Medien scheitert, woran können wir uns dann orientieren? Der Arabische Frühling hat dafür ein Beispiel geliefert. Etwas intersubjektiv Geteiltes und für wahr Befundenes, also eine Situation, ein Ereignis, ein Text oder ein Bild, können auf der Suche nach der individuellen Wahrheit erkenntnisreicher sein als durch Experten ausgewählte Informationen. In der Gemeinschaft liegt die Wahrheit.