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Der Aufstand kam mit der Schrift

Claude Lévi-Strauss über kalte und heiße Gesellschaften

Dank der Schrift gibt es mehrere Perspektiven auf die gleiche Geschichte.

Die Speicher sind riesig und sie sind prall gefüllt. Vorsichtige Hochrechnungen lassen vermuten, dass wir heute weltweit über mindestens 5 Zetabyte an Informationen verfügen. Das sind 10 Milliarden Festplatten eines durchschnittlich ausgestatteten Heimrechners. Ausgedruckt käme man damit auf eine halbe Million Bücher pro Erdenbewohner. Alternativ ließe sich darauf auch ein Film speichern, so lang, dass er die vollständige Evolution vom Einzeller bis zum Menschen zeigen könnte — zweimal.

Sicher ist, wir haben mehr Informationen gespeichert, als wir jemals aufrufen könnten. Kontinuierlich türmt sich ein riesiges gemeinsames Gedächtnis in Festplatten, Büchern und Bildern auf, das wir gar nicht benutzen. Ein Großteil der Informationen bleibt im Dunkel der Speicher verborgen.

So überraschen uns Historiker*innen immer wieder mit neuen Erkenntnissen aus unserer Vergangenheit. Sie wühlen in den Archiven — und zunehmend auch Datenbanken — der Welt, um wiederentdeckte Informationsschnipsel zu einem neuen Gesamtbild früherer Geschehnisse zusammenzusetzen. Ihre Aufgabe ist, der Gesellschaft von Neuem bewusst zu machen, woran sie sich gerade nicht mehr erinnert. Unsere Geschichte besteht also nicht aus allen Informationen, die über unsere Vergangenheit zur Verfügung stehen, sondern nur aus dem winzigen Teil davon, der Platz in unserem öffentlichen Bewusstsein findet.

Ständig entstehen dabei neue Erkenntnisse, die unser bisheriges Geschichtsbild in Frage stellen. Gerade in der bundesrepublikanischen Zeitgeschichte mussten Historiker*innen immer wieder Korrekturen der kollektiven Erinnerung vornehmen. Wer war an den Verbrechen des NS-Regimes beteiligt und wer wusste davon? Wer hat unter Mielke Nachbar*innen und Freund*innen ausspioniert? Und wer hat bei den NSU-Morden weggeschaut? In den riesigen Informationsreserven lassen sich viele Neuigkeiten entdecken, die das Selbstbild der Gesellschaft ständig nachjustieren. Die Erinnerungsspeicher sind das Korrektiv der Gegenwart.

Dass es mehr über die Geschichte zu wissen gibt, als woran Menschen sich erinnern können, ist keine Selbstverständlichkeit. In Kulturen, die ohne Speichermedien auskommen, kann die Vergangenheit nur mündlich weitergetragen werden. Orale Kulturen verfassen ihre kollektiven Erinnerungen in Gesängen und Tänzen, Riten und Traditionen.

Alles, was gewusst wird, ist immer auch bewusst. Damit Erinnerungen fortbestehen können, müssen sie kontinuierlich belebt werden. Nur so können sie sich von einer Generation auf die nächste übertragen. Geschichten, die niemand mehr erzählt, und Riten, die keiner zelebriert, werden vergessen.

Konkrete Erlebnisberichte überdauern in oralen Kulturen selten länger als
drei Generationen. Dahinter schließt unmit- telbar eine mythische Vorwelt an, aus der sich die Traditionen und Bräuche der Gruppe ableiten. Die kollektive Erinnerung oraler Kulturen ist in sich abgeschlossen. Alle Überlieferungen verbinden sich zu einer großen Erzählung. So erscheint die Gegenwart
als einzig plausible Folge der Geschichte.

Trotz ihrer geschlossenen Struktur ist die Kultur oraler Gesellschaften immer
in Veränderung. Äußere Einflüsse, wie Naturkatastrophen, Krankheiten und Kriege, gehen als prägende Erlebnisse der Gruppe in die gemeinsame Erinnerung ein.

Kontinuierlich passt sich das Selbstbild den neuen Bedingungen an. Doch der schleichende Wandel wird innerhalb der Kultur nicht als Veränderung wahrgenommen. Ohne historischen Speicher fehlt der Vergleich zu vergangenen Zeiten.

Der Anthropologe Claude Lévi-Strauss nannte sie die „kalten Gesellschaften”. Immer hatte er sich gegen die Pauschalbehauptung gestellt, Kulturen würden sich durch die Art unterscheiden, wie ihre Mitglieder denken. Im Gegenteil stellte er fest, die basalen Denkmuster seien überall die gleichen. Nur die kollektiven Erinnerungen seien durch Speichermedien verschieden strukturiert.

Das Besondere an der geschlossenen Struktur oraler Erinnerungskultur ist: Sie lassen keinen Platz für Vielfalt und Dissens. Natürlich finden sich überall, wo Menschen aufeinandertreffen, Meinungsverschiedenheiten. Aber einem strukturellen Korrektiv, das die Gegenwart immer wieder in Frage stellt, fehlt hier eine historische Basis. Erst wer verschiedene Perspektiven auf die Vergangenheit hat, sieht auch die Möglichkeit einer anderen Gegenwart.

Erst der Schrift gelingt es, den Konsens der Gruppe zu durchbrechen. Plötzlich schaffen es Gedanken und Botschaften, den Raum und die Zeit zu überbrücken. Auch Erinnerungen abseits der lang etablierten Erzählungen überdauern und können, zwischen Dokumenten verschüttet, von zukünftigen Generationen geborgen werden.

Die eigentliche Neuerung ist aber: Man kann verschiedener Meinung über
die richtige Lesweise der überlieferten Zeugnisse sein. Ist die Bibel eine wahre Geschichte? War Wilhelm II. allein am Weltkrieg schuld? Wie kam Uwe Barschel wirklich zu Tode? Fragen, die bis heute das Selbstverständnis der Gesellschaft prägen. Auf der Grundlage einer in Schriftzeichen gespeicherten Vergangenheit können sich verschiedene Gedächtnisse herausbilden, die sich gegenseitig widersprechen. Der Konflikt ist geboren. Für Lévi-Strauss wird die kalte damit zur heißen Gesellschaft.

Doch der Wunsch nach einer geschlossenen Geschichte bleibt. Jede politische Macht versucht in der Vergangenheit eine Legitimation für den Jetztzustand zu finden. Die Opposition interpretiert und bewahrt jedoch eine andere Geschichte. Sie pflegt eine Gegenerinnerung, die das offizielle Selbstbild der Gesellschaft bedroht. Deshalb ist es die Absicht jeder Regierung, die offiziell gewünschte und die öffentlich verbreitete Erinnerung zusammenzuführen.

Totalitäre Systeme zerstören in dieser Absicht häufig ihre historischen Speicher. So kann nur die Erinnerung belebt werden, die von den Machthabern vorgegeben und vorgelebt wird. Ohne Buddhastatuen stellte sich in Afghanistan die Frage nach anderen Religionen gar nicht mehr. Doch auch Demokratien wissen ihre historische Erzählung zu bewahren. Fast jede Regierung führt einen Index mit verbotenen Schriften, an die keine Gegenkultur mehr andocken soll.

Macht will bewahrt werden, deshalb wird das Erinnerungspotenzial, aus dem sich Revolten speisen könnten, eingeschränkt. Gegenerinnerungen wollen die Veränderung. Sie versuchen neue gesellschaftliche Selbstbilder durchzusetzen. Ob gut oder schlecht, seit der Schrift kennt unsere Gesellschaft den Dissens. Mit immer neuen Speicher- und Verbreitungsmedien vergrößert sich das Potenzial für alternative Erinnerungen — und mit ihnen die Möglichkeit zum Widerspruch.

Je größer die Durchlässigkeit zwischen den Erinnerungsspeichern und der Gegenwartskultur, desto dynamischer und schneller entwickelt sich eine Gesellschaft. Schon das geschriebene Wort habe der Gesellschaft den Wandel gebracht, diagnostizierte Lévi-Strauss 1962. Die Schriftkulturen hätten „ihre Geschichte verinnerlicht, um sie zum Motor ihrer Entwicklung zu machen”, sie seien geprägt durch ein „gieriges Bedürfnis nach Veränderung”.
Was hätte er wohl über das Internet gesagt?