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„Das Finanzwesen will uns nichts sagen“

Was der Konjunktiv mit Kapitalismus, dem Zaudern und Notstandssituationen zu tun hat. Ein Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Joseph Vogl.

Wenn Sie den Kapitalismus als Protagonisten eines Romans beschreiben müssten, wie wäre sein Charakter?

Ich würde in jedem Fall für eine kollektive Figurenordnung plädieren. Der sogenannte Kapitalismus ist ein heterogenes Konglomerat aus Geschäftspraktiken, Mentalitäten und Institutionen. Aber es gibt Dinge, die ihm wesentlich sind. Es gibt ein Akkumulationsbegehren, das dem Adverb „mehr“ und „mehr“ und „mehr“ folgt. Außerdem liegt besonders der Fokus der Finanzwirtschaft stets in der Zukunft. Es geht um Profit- und Gewinnerwartungen. In der Literatur gibt es genügend Figuren dieser Art. Eine spätestens seit dem 18. Jahrhundert sehr eingeübte ist der Spekulant. Das heißt der Reiter des Risikos, derjenige, der es zähmt, der sich auf dem Rücken des Risikos grazil bewegt. In Don DeLillos Roman „Cosmopolis“ findet sich die Figur eines Hedgefonds-Managers, dessen Vision in der eigenen Immaterialisierung besteht. Ihm ist das natürliche Gewicht der Welt allzu behäbig, allzu präsent, es muss spiritualisiert und immaterialisiert werden.

In Ihrem Essay „Das Gespenst des Kapitals“ schreiben Sie: „Der Spekulant ist jemand, der nicht spekuliert.“ Was ist damit gemeint?

Das ist eine ganz einfache finanzwirtschaftliche Regel. Jede Investition, die man auf diesen Märkten betreibt, geht mit ungewissen Zukünften und offenen Risikoperspektiven um und muss deswegen zwangsläufig spekulativ sein. Insofern ist Spekulation nichts anderes als die Rückseite der Investition. In den entsprechenden Finanztheorien, insbesondere mit Blick auf den Derivathandel, sollen genau diese spekulativen Investitionen zur Stabilisierung des Systems beitragen

Diese Derivate werden unter anderem als Futures bezeichnet. Das suggeriert mehr Zukünfte als nur eine bestimmte. Was will uns das Finanzwesen damit sagen?

Das Finanzwesen will uns nichts sagen. Aber die Logik dieser Papiere kennt man im Grunde seit Warenterminhandel der frühen Neuzeit. Ich kann heute eine Ware kaufen, die noch nicht existiert. Ich zahle heute den künftigen Preis. Diese Geschäfte dienten als Versicherung. In der Landwirtschaft kann ich zum Beispiel die Ernte des kommenden Jahres verkaufen. Wenn sie ausfällt, habe ich gewonnen; wenn sie sehr viel Ertrag bringt, habe ich verloren. In jedem Fall aber kann ich mich damit versichern. Mit Futures, Derivaten oder Optionen gehe ich eine Wette auf einen künftigen Preis ein, schütze mich aber auch vor Risiken. Das kann gut oder schlecht für mich ausgehen. Das Haus Buddenbrook bei Thomas Mann geht an einem dieser Termingeschäfte zugrunde.

Am Ende des Tages habe ich also nichts Greifbares in der Hand, oder?

Der Derivathandel hat unzählige Geschäftsmodelle hervorgebracht. Eine wichtige Idee dahinter ist, dass man die eigenen Risiken streuen und anderen Käufern veräußern kann. Damit wird eine nach vorn offene Zeitschiene aufgemacht, in der das Risiko einer künftigen Gegenwart in die Zukunft dieser Gegenwart verlagert wird. Das impliziert eine nach vorn offene Skala der Zukunft, einen Ozean an Zeit. Das heißt, es geht bei diesen Geschäften nicht um „Greifbares“, sondern um den Handel mit Zeit, Zukunft und Risiken.

„Der Kapitalismus geht im Grunde mit irdischen Ewigkeiten um.“

Wie geht das kapitalistische Subjekt mit diesem Ozean an Zeit um? Gibt es das Ankommen im Kapitalismus oder provoziert er ein beständiges Leben in einer Schwebe?

Dieses angenommene, konstruierte Subjekt hat mindestens zwei Angelpunkte. Einen bezeichnete der renommierte Ökonom Joseph Schumpeter als schöpferische Zerstörung. Das heißt also eine fortlaufende Modernisierung, ein Umpflügen des Felds. Ähnliches steht auch im kommunistischen Manifest von Marx und Engels, wo das Subjekt des Kapitalismus ein*eine radikale*r Modernisierer*in ist, der*die, wie es wörtlich heißt, das „Stehende und Ständische“ zerstört. Mit dieser eminenten Zerstörungsleistung kann man bestimmte Emanzipationsenklaven schaffen — wer also traditionelle Bindungen zerstört, bietet Emanzipationschancen an. Die andere Seite ist die Zukunftssüchtigkeit des Kapitals. Die Zukunft soll in der Gegenwart profitabel gemacht werden durch Investitionen, durch Spekulation, durch die entsprechenden Geschäftsmodelle. Wahrscheinlich gibt es in diesem Punkt eine Verwandtschaft zwischen religiösen und anderen Ewigkeitserwartungen. Der Kapitalismus geht im Grunde mit irdischen Ewigkeiten um, und das ist ein Grund, warum man etwa aus der Perspektive der Theologie im Geld- und Kapitalverkehr immer eine Konkurrenz zur ewigen Existenz Gottes befürchtet hat.

Schiebt der Kapitalismus dieses Heilsversprechen nicht ewig auf? Liegt dagegen in der Religion die Zukunft nicht tatsächlich im Heil, in der Erlösung?

Die Verwandtschaft hängt vom Standpunkt der beobachtenden Person ab. Walter Benjamin sagte einmal, der Kapitalismus sei ein verschuldender Kultus ohne Aussicht auf Entsühnung. Damit ist etwas Ähnliches gemeint, eine Schuldenökonomie, die an keinem Punkt das Versprechen der Erlösung, das Versprechen der Entschuldung impliziert.

Im „Gespenst des Kapitals“ schreiben Sie, die Regulationsmechanismen des Kapitalismus seien ähnlich denen theologischer Modelle. Dass die Selbstregulation der Märkte nicht funktioniert, haben wir mittlerweile verstanden. Ist der Gott des Kapitalismus also tot?

Damit ist weniger die irdische Gottheit des Kapitals gemeint, sondern bestimmte Markttheorien. Die gewinnen spätestens im 18. Jahrhundert ihre Form und übertragen Vorstellungen der Theodizee, das heißt einer Art Gottesbeweis, auf das Gebiet der Ökonomie. Damit ist die Idee verbunden, dass Märkte — und das gilt für klassische und neoklassische Lehren bis heute — zum Gleichgewicht tendieren, dass sie durch einen gewissen Physikalismus gekennzeichnet sind. Man kann dort Naturgesetze erkennen, und damit ist auch eine Providenzhoffnung verbunden, also die Hoffnung, die Zukunft beherrschbar machen, die Zeit zähmen zu können.

Hat der Kapitalismus ein Jenseits?

Der Kapitalismus ist eine historische Formation, deren Entstehen man in der frühen Neuzeit feststellen kann. Spätestens im späten Mittelalter, im 13., 14. Jahrhundert. In seinem historischen Lauf hat er mehrere durchaus radikale Veränderungen durchgemacht: Handelskapitalismus, Finanzkapitalismus, Industriekapitalismus. Insgesamt aber auch unterschiedliche lokale und geografische Ausprägungen gewonnen. Der Kapitalismus in Mexiko einschließlich der Drogenmafia ist ein anderer als der in Russland oder in China oder in mitteleuropäischen Staaten. Vor diesem Hintergrund einer gewordenen historischen Formation hat er natürlich ein Jenseits, also ein Ende wie alle irdischen Dinge.

„Zwischen der Spiritualität des Kapitals und der Pornografie der Arbeitswelt liegen die aktuellen Erzählungen bereit.“

Abgesehen von unterschiedlichen Ausprägungen hat der Kapitalismus ja auch bestimmte Narrationsstrukturen. Die Story „Vom Tellerwäscher zum Millionär“ ist aber im Grunde auserzählt. Was wäre denn eine aktuelle Erzählung?

Die Frage ist, wie sich futurisches, zukunftslastiges Erzählen in eine Erzählgegenwart integrieren lässt. Wie geht man mit Optionen, Möglichkeiten oder Potenzialen um? In diesem „Narrativ“ liegt ein grenzenloses Reservoir von Versprechen und möglicherweise uneingelösten Versprechen bereit, alles strahlt vor künftigem Glück. Die andere Seite ist die Erzählbarkeit des Elends, der Ausbeutung. Zwischen der Spiritualität des Kapitals und der Pornografie der Arbeitswelt liegen die aktuellen Erzählungen bereit.

Funktioniert das System überhaupt ohne verschleiernde Momente, wie es solche Erzählungen auch sein können?

Natürlich nicht. Man kann eine regelrechte Typologie von Erzählungen festmachen, die den Kapitalismus begleitet haben. Eine der berühmtesten Erzählungen ist die Robinsonade. Robinson war zunächst Sklavenhändler, und zwar einer, der auf einem der ersten freien Märkte, den Sklavenmärkten, Geschäfte machte. Dabei erlitt er Schiffbruch, in der Nähe einer Insel vor Venezuela. Unter neuen Bedingungen baut er eine heile ökonomische Welt auf und kommt dadurch wieder zu Vermögen. Eine schöne Legende. Eine andere kanonische Erzählung ist die Geschichte des Wucherers. Sie geht auf aristotelische und scholastische Wucherverbote zurück, hat sich dann mit antijudaischen, später antisemitischen Motiven aufgeladen. So kam eine Art rassistische Kapitalismuskritik zustande, spätestens im 19. Jahrhundert: Auf der einen Seite haben wir den guten deutschen Kaufmann, der mit Realien umgeht, und auf der anderen Seite den bösen Kapitalisten, der irgendwie mit dem ewigen Juden verwandt ist, keine Kinder hat und stattdessen sein Kapital Junge kriegen lässt. Solche Geschichten stabilisieren das System.

Das heißt, wir haben im Grunde genommen eine Wirtschaftsordnung, die im kollektiven Unterbewusstsein als böse angenommen und auf einzelne Charaktere projiziert wird.

Ja, irgendwie ist Kapitalismuskritik Gemeingut geworden, und im Grunde ahnt jeder, dass Geld den Charakter verdirbt. Aber dieses Unbehagen hatte bisher wenig praktische Konsequenzen, ein paar Figuren des Ressentiments ausgenommen.

Wir fragen uns, ob es wirksame Widerstandsfiguren dagegen gibt. In Ihrem Essay „Über das Zaudern“ schreiben Sie, dass man den Zauderer als Typus der konjunktivistischen Existenz verstehen kann. Was hat Sie denn daran interessiert?

Mich hat der Schattenwurf einer abendländischen Aktivitätskultur interessiert. Die Beobachtung, dass seit der Antike und seit dem Entstehen von Genres wie etwa der Tragödie die Handlung, das Handlungsvermögen und auch die Durchschlagskraft des Handelns zu einem eigenen Wert geworden sind. Verschiedene Formen der Abstandsnahme gegenüber dem Handeln sind als Trägheit, als Todsünde, als Müßiggang eher disqualifiziert worden. Der andere Punkt lag in der Beobachtung mir wichtiger literarischer Texte, in denen das Aussetzen des Handelns analytischen Charakter gewinnt — das heißt, Versuche, die automatisierten Verknüpfungen zwischen Entscheidung und Tat, Reflexion und Urteil zu unterbrechen. Bei Robert Musil hieß so etwas Möglichkeitssinn oder hypothetisch leben.

Der Zauderer ist also gewissermaßen die Gegenfigur zum potenten westlichen Machtmenschen.

Es ist eine Figur konstitutiver Schwäche, ja.

Kennt nicht jeder Mensch diesen kurzen, schwebenden Moment vor der nächsten Handlung, egal, wie lange man zaudert?

Es ist eher umgekehrt. Ich glaube, dass wir durch unsere psychische Ausstattung und die Formatierung unserer modernen Existenz irrsinnig viele Entscheidungen im Sekundentakt treffen, über die gar nicht nachgedacht werden kann. Wir sind gewissermaßen in ein Verkehrssystem eingelassen, in dem Entscheidungen weitgehend präfiguriert, vorgeformt, reflexhaft gestaltet sind. Wir sind uns dessen, dass es Entscheidungen sind oder gewesen sind, meist gar nicht mehr bewusst.

Der Zauderer ist nachdenklich?

Mit Zaudern meine ich eine Befragungsfigur. Es ist schlichtweg eine Problematisierungsweise, die darauf abzielt, dass es nicht immer darum geht, Antworten oder Lösungen für Fragen und Probleme zu finden, sondern umgekehrt, Probleme und Fragen für bestehende, schon existierende Antworten und Lösungen zu finden. Das ist eine spezifische Erkenntnishaltung. Das Zaudern ist mit einer Entscheidungsnot verbunden, in der es nicht darum geht, diese oder jene Alternative auszuwählen, sondern, in der man vor dem Unentscheidbaren steht. Das heißt, in einer Situation, in der sich keine Alternativen bieten, die man auflisten, gewichten oder bewerten könnte, sondern in der sich die Frage nach der Wahl zwischen dem Wählen und Nichtwählen stellt. Es ist eine Entscheidungsfrage zweiter Ordnung.

„Für die meisten ist „Germany’s next Topmodel“ der plausiblere Plot.“

Ist der Zauderer als Gegenpol zum Machtmenschen auch eine Figur des Widerstands?

Es gibt Bereiche, in denen diese Figur wirksam werden könnte. Das sind zum Beispiel all die Fälle, in denen man öffentlich Notstandssituationen verkündet, um daraus Handlungskonsequenzen abzuleiten. Das war so in der Finanzkrise 2008. Das jüngste Beispiel ist die so genannte Flüchtlingskrise. Eine noch unüberschaubare Sachlage wird als Notstand ausgerufen, um daraus unmittelbare und bereits vorgefertigte Handlungsoptionen abzuleiten. In Situationen dieser Art wünschte man sich zuweilen eine Form des Moratoriums: Was ist die Lage? Lässt sie sich genauer beschreiben? Lässt sich ihr Wirklichkeitssubstrat noch genauer fassen, und wäre es möglich, von dieser Situation ausgehend Handlungsoptionen zu vervielfältigen und nicht durch die Verkündung der Notstandssituation zu verengen? Das wäre eine Situation, in der man erst eine Bestandsaufnahme betreibt, dann den Sachverhalt analysiert, dann Optionen prüft. Was aber heute passiert, ist Aktivitätshysterie, getrieben vom Rumoren des Ressentiments.

Also eher ein vorsichtiges Beachten der Möglichkeiten, nicht das hysterische Surfen im Möglichkeitsraum, das dem kapitalistischen Subjekt anhängt.

Ich würde es noch anders formulieren. Also wenn wir vom Kapitalismus als Möglichkeitsraum sprechen, dann ist das nur die eine Seite. Man darf nicht vergessen, dass das Vorstellen, das Präsentieren, das Ausmalen von Möglichkeiten immer schon auch eine Beschränkung anderer Möglichkeiten ist. Denken Sie an den Konsum: eine wunderbare Warenwelt voller Möglichkeiten, unter der Bedingung allerdings, dass alles seinen Preis hat.

Ist, aus Ihrer Perspektive, eine antikapitalistische Erzählung der Hebel oder muss es revolutionäre Bewegungen geben, um es mal platt zu formulieren?

Ihre Frage begegnet mir oft. Es lässt sich leicht von revolutionären Bewegungen reden, aber keiner macht mit. Man sollte vielleicht mit dem Gerede darüber, ob wir Revolutionen brauchen, aufhören. Denn im Grunde meint man ja damit: Bitte, lieber Revolutionär, hilf mir aus meiner intellektuellen Klemme, aus meiner kleinen politischen Ohnmacht. Solche Fragen zeugen von einer Sklerose politischer Einbildungskraft. Solange die politische Imagination so flügellahm bleibt, wie sie heute ist, sollte man sich das Reden über Revolution et cetera sparen. Aber natürlich — antikapitalistische Erzählungen: Es gibt sie haufenweise, auch heute, von Alexander Kluge, Dietmar Dath, Rainald Goetz und so weiter. Für die meisten ist aber wohl „Germany’s next Topmodel“ der plausiblere Plot.

Was „tun“ also?

Jeder an seinem Ort. Auf der einen Seite würde ich durchaus eine Perspektive übernehmen, die vielleicht auch diejenige von Alexander Kluge ist, nämlich diejenige, dass es darauf ankommt, in einem gewissen Bereich Gegenerzählungen, Geschichten zu erfinden, die Gegengeschichten sind. Das ist ein überaus plausibles Instrument. Er verknüpft das durchaus mit Geschäftsmodellen: Wie kann ich in einem durch Werbefernsehen finanzierten Fernsehen Enklaven schaffen, die sich immun machen gegen die Einschaltquote? Wie kann ich mitten in einem kapitalistischen Hochleistungsbetrieb Enklaven erzeugen? Dazu gehört einiges an juristischer List. Außerdem wird man vom Handeln nicht befreit. Hier lohnt es sich aber zuweilen, ganz elementar nach Kräften zu suchen. Das heißt, wo lassen sie sich bündeln, wo lassen sie sich sinnvoll einsetzen und woher kommen überhaupt diese Kräfte? Im Augenblick entstehen Widerstandspotenziale gegen bestimmte Formen des gegenwärtigen Kapitalismus nicht in den Zentren Mitteleuropas, nicht in den Vereinigten Staaten oder in Großbritannien, sondern in den Peripherien. In Europa wäre das etwa in Portugal, Spanien oder Griechenland. Dort sind Widerstandspotenziale erkennbar, die ganz klare Programme entwickeln. Bei den frühen Vorwahlen zur US-Präsidentschaftskandidatur in New Hampshire war es überaus überraschend, dass 80 Prozent der Stimmberechtigten bei den Demokraten im Alter von 18 bis 35 Jahren Bernie Sanders gewählt haben — nicht zuletzt wegen dessen klaren Korrekturvorschlägen dieses gegenwärtigen Finanzkapitalismus. Seltsamerweise regt sich da auch so etwas wie Widerstand.