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Da lacht der Präsident!

Viel hat sich verändert seit Glasnost, doch der russische Witz hält sich wacker. Nur die Protagonisten wechseln häufig.

Vor dreißig Jahren blühte in Russland der politische Witz. Dafür gab es zwei Gründe. Zum einen war der damalige Generalsekretär Leonid Breschnew total witzig. Er hatte einen Sprachdefekt, konnte kaum noch gerade stehen, verlieh sich selbst jedes Jahr neue Orden und Medaillen und wurde von seinen Parteigenoss*innen stets „Unser verehrter Leonid Iljitsch“ genannt. Man musste sich keine Witze über Breschnew ausdenken, ihn einfach nur bei einem Staatsbesuch zu beobachten, reichte schon für eine Flut von Volkshumor. Breschnew hatte es einfach drauf!

Der zweite Grund für die Popularität des politischen Witzes lag darin, dass man trotz der sozialistischen Diktatur nicht mehr Gefahr lief, wegen eines Witzes im Gefängnis zu landen wie noch bei Breschnews Vorgängern. Das Regime wurde in den Achtzigerjahren dem Volkshumor gegenüber nachlässig.

Und der politische Witz wurde zum Ausdruck eines passiven Kampfes gegen den Totalitarismus. Das Imperium, das sich selbst als ewig und unantastbar begriff, wurde mit diesen Witzen vom Sockel der Geschichte heruntergerissen und verspottet.

Mit dem Alter entdeckte unser Leonid Ilijtsch sein Interesse für Literatur. Er ließ unter seinem Namen einen Haufen Biografisches erscheinen: alles Bücher, die seine Heldentaten zur Zeit des Zweiten Weltkriegs und seine Leistungen beim Wiederaufbau des Landes maßlos übertrieben. Wir Schüler*innen mussten diese Bücher im Literaturunterricht studieren und Aufsätze darüber schreiben. In den Krieg trat Breschnew als Unteroffizier, was aber in seinen Büchern nicht auffiel.

Die Werke dienten als unerschöpfliches Nachschublager für Breschnew-Witze: Wir schreiben das Jahr 1945. Der Generalissimus Stalin ruft bei Marschall Schukow an: „Haben Sie schon einen Plan für die Eroberung Berlins?“ — „Jawohl, Genosse Stalin!“ — „Und haben Sie ihn schon mit dem Unteroffizier Breschnew abgesprochen?“

Die Liebesintrigen aus dem Leben der königlichen Familie waren uns sehr viel näher als die Politschinken.

Breschnew ernannte sich selbst später ebenfalls zum Marschall, im Volksmund hieß es: „Wofür hat Breschnew den Marschalltitel bekommen? Für die Eroberung des Kremls.“ Die wirkliche Politik hat damals niemanden groß interessiert. Während des Literaturunterrichts lasen viele von uns französische Abenteuerromane von Maurice Druon unter der Bank. Die Liebesintrigen aus dem Leben der königlichen Familie waren uns sehr viel näher als die Politschinken: „O Gott, stöhnte die Königin, ich bin schwanger, und ich weiß nicht, von wem!“

In diesen Romanen spielte sich das wahre Leben ab, in Breschnews Werken wurde dagegen nie jemand schwanger. Man las also Liebesromane im Unterricht und erzählte in der Pause Witze über den Generalsekretär: Breschnew gibt eine Pressekonferenz. „Hat noch jemand Fragen?“ Alle schweigen. „Keine Fragen?“, wundert sich Breschnew. „Das kann nicht sein, Genossen, ich habe hier noch zwei Antworten vor mir liegen.“

Mit der Perestroika kam alles in Bewegung, plötzlich wurde die Politik spannend, skurril, hoffnungsvoll und war überhaupt nicht mehr komisch. Alle starrten wie gebannt auf die Bildschirme — die Debatten im Parlament wurden ungeschnitten den ganzen Tag lang ausgestrahlt. Die Politik wurde schwanger wie die Königin im französischen Liebesroman, alle warteten ungeduldig auf das Kind: ein Jahr, zwei Jahre, dann nicht mehr. Es kam nichts, die Debatten im Parlament brachten nur Enttäuschung, und der politische Witz tauchte auch nicht wieder auf.

Es gab wenig zu lachen im Parlament. Dafür lieferten die ersten russischen Kapitalist*innen eine neue steile Vorlage für alle Witzbolde im Land: Die Neureichen, auch Neue Russen genannt, waren wie uniformiert — mit himbeerfarbenen Anzügen, dicken Goldketten bis zum Nabel und Geländewagen mit einer Kalaschnikow auf dem Beifahrersitz. Sie waren lustig: Ein Arbeitsloser kommt zu einem Neureichen: „Ich habe gehört, Sie suchen einen neuen Buchhalter.“ — „Ja“, sagt der Neureiche, „und den alten suche ich auch.“

Eine Zeit lang musste der Neureiche ganz allein für den Neuhumor des Neukapitalismus herhalten. In diesen Witzen grüßte er die Menschen mit dem Fuß anstatt mit der Hand — damit alle seine goldenen Schuhe sahen; er bestellte im Juwelierladen ein Kruzifix, um es als großes Kreuz an seine Halskette zu hängen, wobei er den Verkäufer bat, den „Schwimmer“, also Jesus, abzulöten. Er kaufte sich ein Hotel in Nizza, mit allen Gebäuden im Umkreis von fünf Kilometern und ließ den Strand weiträumig absperren. Dann stand der Neureiche allein mit einem bescheidenen Badetuch am Strand, beobachtete, wie die Sonne im Wasser unterging und seufzte: „Wie wenig braucht der Mensch doch, um glücklich zu sein.“

Und der sicherste Baum des Landes war Putin selbst, ein Mann, der keine Witze versteht.

Alle konnten diese Witze verstehen und lachten darüber, außer Putin. Er fand die Neureichen nicht lustig und sprach sich für eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Privatkapital und dem Staat aus. Übersetzt aus der Sprache der Politik in die Menschensprache hieß das ungefähr: „Ich zähle bis drei. Wer bis dahin keinen sicheren Baum gefunden hat, ist selber schuld.“ Und der sicherste Baum des Landes war Putin selbst, ein Mann, der keine Witze versteht.

Der russische Witz verabschiedete sich endgültig von der Politik und dem Business, er ging ins Private: ein wenig Sex, ein bisschen Fußball — und ganz viel Fremdenfeindlichkeit. Früher waren die Tschuktsch*innen und die Jüd*innenwitze absolute Renner. Der Tschuktsche wurde als der dumme Wilde dargestellt und der Jude als der Gerissene. Beispiel eins: Ein jüdischer Soldat ist verletzt, kann seine Leiden nicht ertragen und bittet seinen Freund, ihn zu erschießen. „Ich kann nicht, ich habe keine Munition mehr“, sagt der. „Ach, ich kann dir welche verkaufen“, meint der Verletzte.

Beispiel zwei: Ein Tschuktsche geht zur Polizei, um seine Frau als vermisst zu melden. „Wie sieht sie denn aus?“, fragt ihn der Polizist. „Weiß nicht“, sagt der Tschuktsche. „Du musst sie aber beschreiben, damit wir sie suchen können“, erklärt ihm der Polizist, „meine Frau zum Beispiel ist groß, schlank und blond.“ — „Na, dann lass uns doch lieber deine Frau suchen“, sagt der Tschuktsche. Die Tschuktsch*innen waren lange Zeit davon überzeugt, dass die Tschuktsch*innenwitze von Jüd*innen ausgedacht wurden, damit man nicht nur über sie lachte. Aus dem selben Grund vermuteten die Jüd*innen, dass die Tschuktsch*innen für die Jüd*innenwitze verantwortlich waren.

Nach Auflösung der Sowjetunion haben sich die Dummen multipliziert. Alle Völker wurden im Kapitalismus zu Tschuktsch*innen. Die Russ*innen erzählen zum Beispiel gern Witze über die geizigen Ukrainer*innen, die verstockten Est*innen und die wilden Georgier*innen. Die Ukrainer*innen lachen ihrerseits über die zurückgebliebenen Moldawier*innen, die gierigen Russ*innen und handelstüchtigen Armenier*innen. Die Est*innen kennen viele Witze über die unzivilisierten Russ*innen. Und alle postsowjetischen Völker sind nach wie vor gut auf Jüd*innen und Tschuksch*innen zu sprechen.

„Vergiss deinen Irak, du Arschgeige, lass uns lieber gemeinsam Georgien plattmachen.“

Es sind oft die gleichen alten Witze, nur die Nationalitäten wurden ausgetauscht. Den Witz über den verletzten jüdischen Soldaten habe ich zum Beispiel auch über einen Ukrainer, einen Russen und einen Aserbaidschaner gehört. Aus der allgemeinen Hilflosigkeit und Unsicherheit gegenüber den neuen Verhältnissen entsteht so ein neuer Internationalismus, der alle Ethnien und Bevölkerungsgruppen in ihrer Dämlichkeit gegenüber dem Kapitalismus vereint.

In der russischen Politik, wie in der deutschen auch, sind die einzigen Spaßvögel die Liberalen. Der russische Chef der liberalen Partei Schirinowski versucht auf russische Art lustig zu sein: Mal haut er einem Parlamentarier während der Sitzung eins in die Fresse, mal wendet er sich an den amerikanischen Präsidenten Bush mit den Worten: „Vergiss deinen Irak, du Arschgeige, lass uns lieber gemeinsam Georgien plattmachen.“

Aber auch er schafft es nicht, den russischen Präsidenten zum Lachen zu bringen. Putin lacht nicht in der Öffentlichkeit. Höchstens hinter verschlossenen Türen, wenn beispielsweise jemand einen dieser modernen tschetschenischen Terrorwitze erzählt: Ein Soldat der Einheit zur Terrorbekämpfung schickt seiner Oma nach Sibirien einen Sprenggürtel als Souvenir. „Liebe Oma“, schreibt er, „du wolltest doch schon immer eine warme Weste haben, jetzt habe ich eine für dich. Sie ist große Mode in Moskau und birgt eine Überraschung. Da ist so ein kleiner Ring hintendran, wenn du daran ziehst, bekomme ich drei Tage Urlaub.“ Da lacht der Präsident!