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Being Blurry

Scharfe Bilder zeigen schon lange nicht mehr, wie die Welt wirklich ist. Aber Uneindeutigkeit ist auch eine Chance, vor allem im Blick auf uns selbst.

Wir leben in unscharfen Zeiten. Einer der vielen Profilbildtrends auf Facebook besteht darin, sich hinter wackeligen Selbstporträts zu verstecken. Der Musiker James Blake zeigt sich auf dem Cover seines ersten Albums gern verschwommen und sogar der sonst sehr kontrastfreudige Marilyn Manson geht mittlerweile ganz in Weiß auf. Auch zahlreiche geisteswissenschaftliche Bücher geben sich „blurry“, besonders dann, wenn es um das Verhältnis zwischen Menschen und technischen Medien geht. Unschärfe steht für Ungreifbarkeit, für einen Sinn, der sich visuell nur ausdrücken, aber nicht beschreiben lässt, oder für eine Situation, deren Gründe und Konsequenzen sich noch nicht feststellen lassen. In diesem Sinne ist Unschärfe eine kritische Form, die sich insbesondere in unserer vernetzten digitalen Kultur in unterschiedlichen Zusammenhängen wiederfindet.

Das Internet hat uns nicht nur daran gewöhnt, in Tag-Clouds zu denken, sondern auch daran, unsere Gedanken und Erinnerungen in Wolken zu speichern. Neben den harten Kanten mancher Suchfenster klingt die „unscharfe Suche“ nach einem verführerischen Angebot. Wer weiß denn schon, was er*sie sucht, oder sucht, was er*sie schon weiß. Amazon rät uns gern etwas muttihaft, was uns auch noch gefallen könnte und was die anderen so gekauft haben. Wir alle haben schon mal den schmerzlichen Moment erlebt, wenn die Bilder unserer live gestreamten Liebsten auf Skype zu Francis-Bacon-haften Figuren verzerrt werden. Immer gern geliket werden Bilder aus unserem digitalfotografischen Smartphone-Gedächtnis, eingefangen mit einer Fingerberührung und ausgestattet mit dem Touch des Augenblickhaften durch den technisch implementierten „Gaussian blur“. An dem lustigen bis nervigen Youtube-Material, das unsere Freund*innen uns bisweilen aufnötigen, stört uns nicht, wenn es rauscht und ruckelt, während die visuelle Integrität von Moderator*innen und Internet-Pornstars arg unter HD und anderen Auflösungsfragen leidet. Die visuelle Form, in der die Bilder aus den glatten schwarzen Oberflächen unserer Geräte hervortreten, sagt eine Menge über die Situation unserer digitalen Kultur.

Aber angeblich sieht es nicht gut aus. Zumindest wenn man einigen Buchtiteln glaubt. „Wer bin ich, wenn ich online bin?“, fragt der Hirnforscher Nicholas Carr. „Cyberkrank“ oder „Digitale Demenz“, so wenig feinsinnig, aber sicher verkaufsfördernd klingen die Diagnosen des Psychologen Manfred Spitzer. Selbst die amerikanische Soziologin Sherry Turkle, die die soziale Dimension vernetzter Kommunikation schon früh im Blick hatte, sieht uns mit Facebook „Verloren unter 100 Freunden“ und befürchtet, dass wir dadurch „seelisch verkümmern“. Wir haben anscheinend Verbindungsprobleme, nicht nur visuell, sondern mit uns selbst (und unserem Gehirn) und unseren Freund*innen. Diffus ist auch der Hintergrund der Netzkritiker*innen-Pamphlete, die sich irgendwie einig sind, dass alles zu schnell geht, zu viel ist und zu flüchtig und unübersichtlich wird.

Hoffnung und Angst, eine dramatische Gefühlsverstrickung, aus der sich unsere Kultur auch im 21. Jahrhundert noch nicht befreit hat. Entweder werden die magischen Kanäle des Internets als neue Wege und Bewegungen der Freiheit verhandelt und die sogenannte „Digitalisierung“ als die neue Medienrevolution gepriesen oder eben … das Gegenteil. Dazwischen gibt es nichts, oder etwas, das noch mehr Unbehagen bereitet: Unschärfe.

In unserem vernetzten Medienzeitalter stehen wir angeblich im Nebel der Optionen und sind unfähig, darin ein Muster zu erkennen. Von rechts glaubt man, das habe mit einer Auflösung von Mustern in Form von Werten und Traditionen zu tun. Das Internet macht uns bindungsunfähig und zu selbstbezogenen Lifestyle-Individualist*innen. Von links heißt es, der Kapitalismus habe unsere sozialen Muster zerstört und uns zu bindungslosen Sozialzombies gemacht, die mit befristeten Arbeitsverträgen im Nacken auf den unendlichen Gängen der Online-Shops umherirren, auf der Suche nach der optimalen Entscheidung. Was tun? Die Situation nutzen, um den Werten, Identitäten und immer zu einfachen Gegensätzen zu misstrauen und „unscharf“ werden.

„Unscharf“ zu sein ist kritisch, weil es bedeutet, Fragen und Probleme richtig zu formulieren, statt sich auf monolithische Gegensätze zu verlassen.

Unschärfe ist mehr als eine Mangelerscheinung unserer visuellen Kultur. Unschärfe verzerrt und stellt damit die Klarheit der Bilder, in denen wir meistens denken, in Frage.
Visuell ist Kritik ein scharfes Phänomen. Sie hat angeblich mit Klarheit und Entschiedenheit zu tun. Klare Argumentation und deutliche Standpunkte sind gefordert. Visuell wie gesellschaftlich haben „Perspektiven“ aber auch immer mit Deutungsmacht und dem Anspruch zu tun, im angeblich drohenden Chaos die notwendige Ordnung aufrechterhalten zu können. Damit verschweigt man dann meistens etwas Entscheidendes, nämlich dass es so einfach nicht ist.

Komplexität nicht nur zu akzeptieren, sondern vorauszusetzen; sich auf die Unkontrollierbarkeit und Wechselhaftigkeit sozialer Situationen einzulassen; sein Leben zu leben und nicht geradlinig und effizient zu führen; den allzu klaren Vorstellungen zu misstrauen — eine solche „unscharfe“ Einstellung und Lebensweise ist keine schlechte Unentschiedenheit. „Unscharf“ zu sein ist kritisch, weil es bedeutet, Fragen und Probleme richtig zu formulieren, statt sich auf monolithische Gegensätze zu verlassen.

Die Festigkeit von Standpunkten und immer etwas selbstgefällige Sicherheit von Positionen neigt zu Übergewicht und Einseitigkeit. Wer sich ganz sicher ist, ignoriert nicht nur die anderen und das Anders-Werden, sondern auch die Beschränktheit der eigenen Perspektive. Wer sich anders als die Netzkritiker*innen wirklich über „Medien“ Gedanken machen will, sollte für die Mitte sensibel bleiben und das „Dazwischen“ nicht aus dem Blick verlieren. Die unscharfen Bilder auf unseren Screens sind deshalb wichtig, weil sie die Beziehungshaftigkeit und Situationsgebundenheit unserer vernetzten digitalen Kultur spürbar machen.

Unscharfe Bilder sind in diesem Sinne visuelle Symptome einer Kultur, die sich nicht mehr so einfach auf klare Gegensätze und fixierbare Identitäten reduzieren lässt. Und das hat nicht nur Nachteile. Was würde zum Beispiel passieren, wenn wir die ewigen (optischen) Metaphern durch solche der Unklarheit und Zerstreuung ersetzen? „Selbstreflexion“ als Paradigma unserer vernünftigen Gesellschaft heißt ja immer, sich selbst (klar und deutlich) im Spiegel zu betrachten. Was wäre, wenn das Bild springt, kippt und sich verzerrt wie in einem Livestream oder sich multipliziert, so als hätte man zu viele Fenster gleichzeitig offen? Lernen wir nicht gerade durch die unscharfen Bilder unserer visuellen digitalen Kultur, dass wir nicht auf uns selbst zurückgeworfen, sondern auf „Verbindungen“ angewiesen sind? Die angstvolle Frage „Wer bin ich, wenn ich online bin?“ kann man unscharf beantworten: „Warum nicht je nach Situation und Verbindungsqualität immer ein*e andere*r?“ Ist man nicht auch im alltäglichen Offline-Leben immer ein*e andere*r: zuhause, im Büro oder abends in der Kneipe? Mit 100 Facebook-Freund*innen kann man da natürlich nicht jeden Abend Bier trinken gehen, aber auch die Kontakte an jeder gewöhnlichen Theke sind ebenso flüchtig, oberflächlich und banal wie manche Bekanntschaften im Netz. Identität, Denken, Freundschaften im Netz sind nicht mehr und nicht weniger als Identität, Denken und Freundschaften im Netz — etwas Eigenes und anderes, das nur durch Medien möglich wird und sich in Medien vollzieht. Problematisch ist das nur, wenn man glaubt, ohne Medien auszukommen, ganz tief, nah und ursprünglich ohne alle Trennungen und Verbindungen zu leben. Warum sollten wir unsere virtuellen sozialen Beziehungen denn gerade an unseren „wirklichen“ sozialen Beziehungen messen? Unsere Freundschaften im Netz fordern uns dazu auf, neu darüber nachzudenken, wie wir Freundschaft eigentlich verstehen und welche unhinterfragten Kriterien von Tiefe, Nähe und Echtheit dahinterstehen. Medien zeigen uns, dass die Dinge so einfach nicht sind.

Irren wir doch mal ein bisschen im Nebel herum.

Wahrscheinlich lesen wir auch trotz unserer „digitalen Demenz“ immer noch Bücher oder lesen sie anders. Um dem beschriebenen Schwanken zwischen Hoffnung und Angst eine Richtung zu geben, sind mit Bezug auf Medien leider Diabolisierungen und Todesurteile sehr beliebt. Kaum hatte die Aufklärung im 18. Jahrhundert alte Ängste weggefegt, machte man sich erneut Sorgen, dass das viele Lesen vor allem Frauen und Kindern schaden könnte. Hier war es weniger die Demenz als die Angst vor der Unkontrollierbarkeit der Vorstellungen und der vielleicht sogar kritischen Gedanken, die da jetzt in den sensiblen Frauengehirnen unkontrolliert umherspukten. Mit jedem neuen Konkurrenzmedium, ob Fernsehen oder Internet, hat man wieder und wieder kulturkritisch sorgenvoll den Tod des Buches ausgerufen. Und es hat überlebt. In immer neuer und anderer Form.

Also haben wir Verbindungsprobleme oder gar Bindungsängste? Vielleicht haben wir eher ein Problem mit zu einfachen Gegensätzen, die uns daran hindern, zu denken, was dazwischen passiert, was offen und unsicher bleibt und sich von Situation zu Situation neu ergibt. Und es sind gerade die schwierigen und manchmal auch schwachen Verbindungen, die uns dazu herausfordern, uns mit einer ‒ wie René Descartes sie genannt hat ‒ „provisorischen Moral“ auf den Weg zu begeben. Unschärfe zu akzeptieren kann eine Haltung sein, die uns dazu bringt, offen und angreifbar für das andere zu bleiben, statt auf unseren immer gleichen Standpunkten zu beharren und auf gewohnten Wegen zu bleiben.
Unscharfe Zustände sind besonders informationsreich, weil eine Menge passieren kann. Diese Kontingenz mit Mustererkennung beherrschbar zu machen, ist gerade in unserer digitalen Informationsgesellschaft immer auch ein ökonomisches Anliegen. „We have no future because our present is too volatile. We have only risk management. The spinning of the given moment’s scenarios. Pattern recognition …“

Diesen Satz spricht in William Gibsons Buch „Pattern recognition“ ausgerechnet ein Marketingchef, der seine Agentin darauf ansetzt, aus dem rauschigen Footage, das auf einer Internetplattform getauscht wird, den nächsten Trend herauszufiltern. Vielleicht kann man sich diese Strategie aber auch zu eigen machen, um sich der Logik der Effektivität und Vorhersagbarkeit zu widersetzen. Das heißt gerade nicht, ganz gesund, ganz bewusst, achtsam und im Augenblick zu leben und damit wieder nur um sich selbst zu kreisen, sondern den Coaching-Ratschlägen und Heilsversprechen gerade nicht zu vertrauen.
Unscharf sein kann heißen, einfach und naiv den unerwarteten, abweichenden Bewegungen zu folgen, sich mit Widerständen auseinanderzusetzen und aufzuhören, die Komplexität und Problematik des eigenen und des anderen Lebens in vorgefertigten Begriffsmustern aufzulösen.

Es kann auch entlastend sein, auf hysterische Diagnosen zu verzichten und aufzuhören, den meistens zu einfach gestrickten Lösungsversprechen zu folgen. Irren wir doch mal ein bisschen im Nebel herum und schauen, was sich ergibt, welche Leute wir da treffen und was sich gemeinsam machen lässt.