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Am Ende des Linoleumtisches

Was kommt nach den verworfenen, den überheblichen und den notwendigen Plänen? Eine Zukunft in unerträglichen Schritten.

„Deine Zukunft in fünf easy steps!“ Die Frau mit den unbesorgt über ihr Gesicht hüpfenden Locken auf dem Plakat, das in einem Seitengang meiner Uni – Abteilung „Career Service“ – hing, hatte mich nun tagelang verfolgt. Ihre durch retuschierten Optimismus geweiteten Augen fingen an, zunehmend vorwurfsvoll zu starren. Auf die letzten 80 Cent in meiner linken Hand, mein Armutszeugnis in der rechten, und das Schlachtfeld des Noch-Möglichen, meiner Vorhaben und Ideen zu meinen Füßen. An Tag sechs wurde ich schwach. Und setzte meinen Namen und meine Telefonnummer unter den schwarzen Strich.

An Tag neun wartete schließlich in einem fahlen Büroraum in einer namenlosen Seitenstraße am Ende eines Linoleumtisches, von dem die Kanten abgeknibbelt waren, ein Mandelbrot-Apfelmännchen als eingesackter Henker. Den Gürtel zu eng gezurrt, wackelte sein Wanst gleich zweifach auf, als die Tür hinter mir ins Schloss fiel. Ein Tropfen Schweiß perlte auf seine Wimpern. Er war das ernüchternde Fleisch zu der Verheißung auf dem Plakat: Typ degradierter Unternehmensberater mit gelbgrauem Haarkranz, den seine Erfahrung dazu berufen hatte, einer Ahnungslosen wie mir Wegweiser vor die Füße zu werfen. Handlich verdichtet in Form eines Flyers, den er Falte für Falte vor mir aufklappte und seine zigarettengebräunten Finger an die äußerste Stelle legte.

Step eins. Wieso studieren Sie? Frontal erwischt. Auf die oberflächliche Frage hatte ich meinen violingetränkten Monolog zurechtgelegt, auf die existentielle nicht. Komparatistik und Philosophie sind vergebliche Studiengänge, ich weiß das, ich hatte nicht auf lange Sicht geplant, ich war unsicher, wissen Sie. Ich bin angehende Kulturindustrielle mit Impostor-Syndrom ohne gewerkschaftliche Stütze. Freelance als Identität, aufgespießt von zu viel Freiheit. Sicherheit? Ich kann Ihnen versichern, dass meine Mutter anderes für mich im Sinn hatte, „nur als Juristin oder Ingenieurskauffrau bist du in diesem Land eine echte Deutsche“, klagte sie, während ich ihre Anlagen auf Einbürgerung ausfüllte. Während ich 10 Jahre später meine Anlagen auf Wohngeld ausfüllte. Während ich meine Krankenversicherung nicht bezahlen konnte, die Ibus 800 im Schrank aufstockte und meine Inkassobriefe unter Blumentöpfe stopfte – die Mitarbeiterin im Jobcenter wollte mich eh zur Floristin umschulen lassen. Vor wenigen Tagen setzte sich ein crackvernarbter Obdachloser neben mich auf die Bank im U-Bahnhof, schlug seine verwässerten Augen nieder und lächelte mich lang und warm an. Schließlich fragte er mich, was ich studiert hätte. Ich antwortete geflissentlich. „Das wird kein Geld geben“, gab er mit Straßenweisheit zu bedenken und winkte ab. „Musst du was anderes studieren.“ Wo ich mich in 10 Jahren sehe? Wo haben Sie sich denn vor 10 Jahren gesehen? Ich verweigere mich, ich überlebe, wo zu überleben ist, haben Sie in letzter Zeit aus dem Fenster geschaut? Na also.

Vielleicht werde ich irgendwann einen Atomschutzbunker airbnben – welch unendlich schöne Aussicht.

Step zwei. Sind Sie in einer festen Partnerschaft? Geht Sie einen Scheißdreck an, ich bin eine heilige Hure, ich kralle mich aufrichtig an meiner Liebe fest. Aber falls Sie auf die Frage nach Fortpflanzung aus sind: Das überlasse ich anderen, denen, die ohnehin schon zu viel sind. Den Übrigen streiche ich mit Andacht und Ehrfurcht über die sich prächtig aufblähenden Kugeln. Ich möchte, dass meine Freundinnen sich in den Strom der Unendlichkeit legen, ihre Zwerge in die Welt schicken, auf dass sie irgendwann mal den letzten Eisbär sehen. Irgendwann zerlege ich mit ihnen ihren ersten Regenwurm im Park. Ich zeige mich verantwortungslos, wie Enis Maci es in „Eiscafé Europa” völlig richtig auf den Punkt bringt: „Solange sie, und nur sie, fähig ist zu gebären, steht die Frau unter dem Joch Gottes und des Mannes. Die Befreiung ist […] nur in der Verantwortungslosigkeit zu erreichen, oder anders: im Verzicht auf die vorgesehene Verantwortung.“

Step drei. Und spätestens an dieser Stelle quälte sich durch meine schief gelegten Lippen ein als Lachen maskiertes Quäken: Wie sieht es mit einem Bausparvertrag aus? Wie wollen Sie Ihr Eigenheim finanzieren? Ich baute mich auf: An mich wird niemals eine Doppelhaushälfte in einem niedersächsischen Hinterland vererbt, verstehen Sie, und selbst wenn diese je existiert hätte, wäre sie schon längst zur Aufstockung der Rente verscherbelt worden. Und Eigentum ist heutzutage ohnehin over. Durch meine Blutlinie ziehen sich Enteignung, Vertreibung, eine Holzhütte im sibirischen Gulag, der Umzug von Polen nach Deutschland noch vor dem Fall der Mauern, „für eine bessere Zukunft für unsere Kinder im Westen“. Weil sie es geglaubt haben, weil sie so blind waren, es zu glauben, ihrer Verheißung gefolgt sind, bis der Vorhang riss. Heute sehen wir. Wie das Meer anfängt zu verschlingen, und Zivilisation zu Sand zerrieben wird, der langsam ins Getriebe des Weltgeistes rieselt. „Dass sich das Alltägliche im Angesicht des Apokalyptischen behaupten möge“, schreibt Mark Greif in „Bluescreen”, „das ist meine Hoffnung in dieser Zeit.“ Vielleicht werde ich irgendwann einen Atomschutzbunker airbnben – welch unendlich schöne Aussicht.

Ich bin angehende Kulturindustrielle mit Impostor-Syndrom ohne gewerkschaftliche Stütze. Freelance als Identität, aufgespießt von zu viel Freiheit.

Steps vier und fünf. Wir sahen einander tief in die Augen, das Apfelmännchen und ich. Der Abgrund unseres Schweigens wurde plötzlich gebrochen vom entrückten Echo einer vertrauten Stimme in meinen Kopfhörern, die wie ein deus ex siliconia durch meinen Rucksack schlug: „I am / all of the things that are my life / my desires / my beliefs / my moods / Here is my place without a plan“. Diese Zeilen schrieb David Bowie für sein letztes Album „Blackstar” kurz vor seinem Tod aus der Perspektive eines Bilanz ziehenden Jenseitigen, von dem Nicht-Ort aus blickend, an dem unsere Pläne erst ihre Gültigkeit verlieren. Die Essenz des Menschen fußt für ihn auf der Gesamtheit unserer Pläne – den verworfenen, den erfolgreichen, den überheblichen und notwendigen –, die uns in Wechselwirkung zu dem machen, was wir sind, und unsere Richtung vorgeben. Ich erkannte meine Richtung, den vierten und fünften Schritt unternahm ich selbst: raus aus diesem Büro, raus aus dem Korsett des Vorgestrigen. Ich werde nicht aufhören, im Angesicht des Apokalyptischen meine Entwürfe zu zeichnen, für eine „bessere Zukunft für unsere Kinder“, für eine bessere Zukunft für mich. Auch wenn ich nicht weiß, wie, doch wer weiß das schon, das Apfelmännchen ganz bestimmt nicht. Unsere Zukunft in unendlich vielen unerträglichen easy steps.