Strahlen im Gesicht
Woher kommt eigentlich der Wunsch, die Gedanken der Menschen sichtbar zu machen?
„Es sieht jetzt wirklich bei mir recht sehr wie in einer Hexenküche aus“, schreibt Heinrich Hertz in einem Brief an seine Eltern über sein neues Labor. Wie fast alle Forscher im relativ neuen Feld der Experimentalphysik war auch der junge Hertz von der Arbeit mit Gasentladungsröhren fasziniert. Die Glaskolben, in denen sich „Gase unter dem Einfluß der Entladung wie verrückt gebärden und die sonderbarsten, mannigfaltigsten und buntfarbigsten Erscheinungen veranstalten“, waren am Ende des 19. Jahrhunderts in fast allen Laboren vorhanden und dienten der Erforschung elektrischer Ströme. Hertz’ bärtiger Kollege Wilhelm Conrad Röntgen war vom Bann der spektakulären Entladungsphänomene verschont geblieben. Er muss wohl geahnt haben, dass das Geheimnis der Röhren nicht im farbigen Leuchten, sondern im gänzlich Unsichtbaren liegt.
Im November 1895 umhüllt er eine Entladungsröhre mit einem Stück schwarzem Karton. Trotz der lichtdichten Verpackung weist ein daneben aufgestellter fluoreszierender Schirm auf die Anwesenheit von unsichtbarer Strahlung hin. Um Licht konnte es sich nicht handeln — Röntgen war sich sicher, ein neuartiges, rätselhaftes Agens entdeckt zu haben. Unter strenger Geheimhaltung forscht er sieben Wochen lang an seinen X-Strahlen und stößt dabei schnell auf den Effekt, der die ganze Welt beeindrucken wird: Wenn er seine Hand vor die Röhre hält, durchdringen die neuen Strahlen das Gewebe und nur die Knochen sind als Schattenwurf auf dem Schirm zu sehen. Der Ehering scheint auf den Bildern wie schwerelos um den dünnen Fingerknochen zu schweben.
1896 wird gestrahlt, was das Zeug hält
In den folgenden Wochen verbreiteten sich die Nachrichten von der neuen Strahlenart wie ein Lauffeuer, bebildert mit den beeindruckenden Fotografien der Skeletthände. Der Londoner Standard muss seinen Lesern versichern, dass es sich bei den X-Strahlen nicht um Humbug handelt, sondern um die ernsthafte Entdeckung eines ernsthaften deutschen Professors. In öffentlichen Vorstellungen, sogar in Schuhkaufhäusern, werden der breiten Bevölkerung die Effekte des Röntgen’schen Apparats vorgeführt. Wer sich traut, hält die eigene Hand vor den Schirm. Wer nicht genug kriegen kann, kauft sich eine Röhre für den Heimgebrauch. Vielerorts sind die Instrumente bald restlos ausverkauft. 1896 wird gestrahlt, was das Zeug hält (und zur Freude der Röhrenhersteller hält das Zeug auch nicht besonders lange).
An der Columbia University will man das Röntgenbild eines Knochens direkt in das Gehirn eines Hundes projiziert haben. Da der Hund auf der Stelle hungrig geworden sei, sah man das Experiment als geglückt an. Nach einem Bericht in der seriösen Fachzeitschrift Science war man am College of Physicians and Surgeons sogar dazu übergegangen, den Studierenden die zu lernenden anatomischen Zeichnungen direkt ins Gehirn zu röntgen. Selbstverständlich habe man damit auch einen nachhaltigeren Lernerfolg erzielt. Bald kamen die energiereichen Strahlen auch bei Menstruationsbeschwerden oder der kosmetischen Haarentfernung zum Einsatz.
Die Gefährlichkeit des Verfahrens wurde dabei stets geleugnet, selbst nachdem sich schon im ersten Jahr nach der Entdeckung bei einigen Experimentierfreudigen die Haut von den verstrahlten Händen ablöste. Die schrecklichen Symptome der Strahlenkrankheit wurden sogar oft durch noch stärkere Bestrahlung behandelt. In der breiten Bevölkerung kommt währenddessen eher Angst vor dem drohenden Verlust der Intimsphäre durch die allgegenwärtige Durchleuchtung auf. Eine Londoner Firma profitiert davon durch den Verkauf von strahlensicherer Unterwäsche.
Die Entdeckung der X-Strahlen war eine Herausforderung für die Naturwissenschaft. Sie fielen unter die lange Liste der Phänomene, die sich nicht mit den bekannten Gesetzen beschreiben ließen und für die keine materielle Erklärung gefunden werden konnte. Erst zehn Jahre nach ihrer Entdeckung wurde die Röntgenstrahlung als lichtähnliche Welle identifiziert. Davor gab sie jedoch Anlass für grenzwissenschaftliche Spekulationen über Wellen und Energien. Durch Röntgens Entdeckung erlangten verstaubte okkulte Lehren von übersinnlichen Od-Strahlen oder dem kosmischen Vitalfluidum eine späte Rehabilitation als plausible wissenschaftliche Theorien.
Auch übernatürliche Erklärungen hatten noch einige Überzeugungskraft
Auf der Suche nach Orientierung im Materialismus der industrialisierten Moderne hatten sich im ausgehenden 19. Jahrhundert ohnehin viele Menschen okkultistischen Inhalten zugewandt. Spiritistische und esoterische Gesellschaften waren Bollwerke gegen die fortschreitende Entzauberung der Welt und hatten um 1880 weltweit mehrere Millionen Anhänger. Für Geisterbefragungen und die beliebte Praxis des Tischerückens scharte man sich um spiritistische Medien, die in Hinterzimmern ihre Séancen abhielten.
Eine beschwörerisch-magische Inszenierung war dabei weitgehend aus dem modernen Repertoire verschwunden. Die Séance folgte nun eher dem Aufbau der wissenschaftlichen Experimentalsituation: Mit Apparaturen und Messungen, Protokollen und dokumentarischen Fotografien bemühte man sich, Beweise für die Echtheit der okkulten Phänomene zu liefern. Auch das Vokabular passte sich der neuen Strahlenmode an. Wo man früher von der Aura oder der Lebensenergie gesprochen hatte, experimentierte man fortan mit Xx-, Y-, V- oder N-Strahlen.
Um die Jahrhundertwende war das moderne naturwissenschaftliche Selbstverständnis, das die Rätsel der Natur als grundsätzlich begreifbar ansieht und sich bemüht, ihnen mit empirischen Methoden schrittweise auf den Grund zu gehen, noch nicht sonderlich gefestigt. Zwar konnte man sich eine Missernte mit schlechten Wetterbedingungen erklären, doch auch Gott hat hier und da vielleicht seine Hand im Spiel gehabt: Auch übernatürliche Erklärungen hatten noch einige Überzeugungskraft. Viele Akademiker interessierten sich für die Erforschung der spiritistischen Erscheinungen als eine „Naturwissenschaft vom Unbekannten“. Röntgens Assistent Ludwig Zehnder ist ein Beispiel für einen solchen ganzheitlichen Naturforscher, der trotz der intensiven Zusammenarbeit mit dem Materialisten Röntgen privat kosmisch-esoterischer Forschung nachging.
Gegen die drohende Ermüdung der Forscher wurde von den vielen Neugierigen vor den Fenstern kontinuierlich eine Drehorgel gespielt.
Auch der Physiker William Crookes, dessen modernisiertes Röhrenmodell Röntgen für seinen Versuchsaufbau benutzte, war von der Echtheit der Erscheinungen in den Séancen überzeugt und betrachtete den Spiritismus als „wonder-land towards which scientific enquiry is sending out its pioneers“. Große Hoffnung setzte man auf den schon zu Lebzeiten legendären Erfinder Thomas Edison. Etliche Reporter und Schaulustige belagerten sein Haus, nachdem er bekannt gegeben hatte, sich der Röntgenfotografie des menschlichen Gehirns zu widmen. Von einer solchen Aufnahme erhoffte man sich nicht weniger als die Sichtbarmachung der Gedanken. Mit einer Gruppe von Wissenschaftlern arbeitete Edison wochenlang bis spät in die Nacht an diesem ehrgeizigen Unterfangen. Gegen die drohende Ermüdung der Forscher wurde von den vielen Neugierigen vor den Fenstern kontinuierlich eine Drehorgel gespielt.
Louis Darget, Major der französischen Armee und Autodidakt der spiritistischen Fotografie, hatte es im Laufe des Jahres 1896 bereits geschafft, seine Gedanken fotografisch abzubilden. Sein Versuchsaufbau war dabei denkbar einfach: Eine lichtundurchlässig verpackte Fotoplatte gegen die Stirn gedrückt, schaffte er es, seinen Denkinhalt durch bloße Willensanstrengung auf das Material zu übertragen. Auf der entwickelten Fotografie prangte eine rätselhafte Flasche. Und war sein Blick nicht kurz vor dem Experiment noch über die Flasche Schnaps auf dem Tisch geschweift? „Es scheint“, schreibt Darget, „dass die Flaschenform, die ich absichtlich im Gehirn behalten habe, auf die Platte projiziert wurde, dass sie als Leuchtspur das Gehirn verlassen und den Schädel nach Art der Röntgenstrahlen durchquert hat“.
Trotz Orgelbegleitung war Thomas Edison zu keinem solchen Ergebnis gekommen und gab die Röntgenfotografie des Gehirns bald auf. Sein Sohn machte sich fortan daran, die Forschung des Vaters auf ganz eigene Art und Weise fortzusetzen. Umgeben von Entladungsröhren und mit einem selbst gebauten Gestell auf dem Kopf versuchte er, den alten Traum vom Festhalten der Gedanken doch noch zu verwirklichen.
Die grenzwissenschaftlichen Gedankenfotografien der Jahrhundertwende waren keinesfalls Betrügereien. Major Dargets Versuche bildeten ein ergebnisoffenes Experimentalsystem, in dem er wiederholt Selbstversuche durchführte (nur dass die fotografische Platte eben in drei von vier Fällen eine Flasche zeigte). Schon bald sahen sich die wissenschaftlichen Gesellschaften genötigt, handfeste Prüfungsverfahren durchzuführen, um die grenzwissenschaftliche Forschung einzudämmen. Schnell stellte sich heraus, dass die rätselhaften Erscheinungen auf den Fotoplatten auf Schweiß, Körperwärme oder stümperhafte Entwicklung zurückgeführt werden konnten und es sich keinesfalls um Aufzeichnungen der Gedanken oder feinstofflicher Ausströmungen handelte.
Ähnlich wie die Strahlenforschung der Jahrhundertwende hat gegenwärtig die Neurowissenschaft Hochkonjunktur. Viel Forschungsgeld fließt in neue Institute und exotische Fachrichtungen mit dem Schlagwort im Namen. Das Goldkind der Hirnforschung ist dabei die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT). In der aus ziemlich jeder Krankenhausserie bekannten Röhre werden Messwerte der magnetischen Eigenschaften von sauerstoffreichem und -armem Blut in farbige Felder umcodiert. So wird die Durchblutung und somit die Aktivität in den verschiedenen Hirnarealen sichtbar gemacht. Ganz wie die Röntgenbilder der Jahrhundertwende gelten die Bilder der fMRT zurzeit als der Schlüssel zum Verständnis des menschlichen Bewusstseins.
Tendenziöse Neurowissenschaftler versuchen durch die Auslegung der fMRT-Bilder gerne den Beweis gegen den freien Willen des Menschen zu erbringen.
In der Röhre wird Poesie gelesen, musiziert, gebetet, viel geliebt und noch viel mehr Werbung betrachtet. In der sensationsheischenden journalistischen Aufarbeitung, aber auch von überinterpretierenden Wissenschaftlern wird durch Vereinfachung und Überspitzung gerne vermittelt, aus den farbigen Flächen der Magnetresonanzbilder ließen sich die Gefühle und Gedanken so evident herauslesen wie der Knochenbruch aus dem Röntgenbild. Tendenziöse Neurowissenschaftler versuchen durch die Auslegung der fMRT-Bilder gerne den Beweis gegen den freien Willen des Menschen zu erbringen.
Mit den pulsierenden bunten Pixeln verhält es sich jedoch eher wie mit den Schlieren auf den Fotos des Major Darget: Ohne Zweifel sind die Erscheinungen in beiden Bildern die Spuren eines wirklichen Vorgangs. Darget zog aus echten Aufzeichnungen jedoch die falschen Schlüsse und war sich sicher, der durch die Stirnwärme erzeugte Fleck sei das Abbild seiner Gedanken. Vielleicht muss sich auch die Naturwissenschaft irgendwann damit abfinden, dass sich die Komplexität unseres Bewusstseins nicht auf einfache Bilder reduzieren lässt.
Es besteht keine Frage, dass die Hirnforschung unentbehrliche Erkenntnisse über die physiologischen Grundlagen des Bewusstseins hervorbringt. Viele der vorschnell getroffenen spekulativen Schlüsse, die den derzeitigen Neuro-Hype befeuern, wird man aber in 100 Jahren sicherlich nicht in der gängigen wissenschaftlichen Lehrmeinung wiederfinden. Wie die spekulative Strahlungsforschung um 1900 werden sie in jenes diffuse Abseits der Wissenschaft rutschen, das als unterhaltsame grenzwissenschaftliche Verirrung nur für die Wissenschaftsgeschichte interessant ist.