Rahmen zerlegen
Musikalische Improvisationen sind nicht geprobt, lassen uns aber unsere Gedanken und Gefühle kommunizieren. Wie wird Musik zu Sinn?
Hört.
Musik passiert, wenn wir Klänge so anordnen, dass Menschen etwas fühlen. Manchmal bereiten wir das über einen längeren Zeitraum vor – dann nennen wir es Komposition. Manchmal machen wir es spontan – dann nennen wir es Improvisation. Improvisation ist Komposition, nur beschleunigt.
Wenn wir komponieren, kann eine Minute Musik eine Ewigkeit brauchen.
Wenn wir improvisieren, schaffen wir eine Minute Musik in einer Minute.
Das Ziel eines*einer improvisierenden Musikers*Musikerin ist es, der Umgebung so bewusst zu sein und so auf sie zu reagieren, dass es der allgemeinen Performance dient – egal ob mit anderen oder allein im U-Boot mit einer Klarinette.
Der allgemeinen Performance zu dienen, bedeutet: Ideen in den Raum zu stellen, mit denen sich musikalisch etwas anfangen lässt. Etwas, das Mitmusiker*innen aufnehmen und weiterentwickeln können. Der Jazz-Pianist Bill Evans hat mal gesagt: Eine improvisierende Musikerin hat „Freiheit mit Verantwortung … wir müssen nichts zu einer bestimmten Zeit spielen, aber sind der allgemeinen Performance verpflichtet“.
Improvisation und Sprache
Wenn wir reden, reihen wir abstrakte Laute aneinander, um Ideen zu vermitteln. Gespräche im Alltag sind nicht geprobt, lassen uns aber dennoch erfolgreich unsere Gedanken und Gefühle kommunizieren. All das funktioniert, weil es in einem definierten Rahmen nach klaren Regeln und allseits bekannten Konventionen stattfindet. Neuwörter, eigenartige Grammatik oder abstrakte Prosa ziehen ihre Bedeutung aus eben dem sprachlichen und kulturellen Rahmen, den sie zerlegen.
Wenn wir Musik improvisieren, reihen wir abstrakte Laute aneinander, um Ideen zu vermitteln. Unsere Improvisationen sind nicht geprobt, lassen uns aber dennoch unsere Gedanken und Gefühle kommunizieren. All das funktioniert, weil es in einem definierten doo bee da bee bo ba BAP badabadibada, POW.
Musik ist eine Sprache und Improvisation ist das (Selbst-)Gespräch.
Improvisieren lernen wir wie das Sprechen: Imitation, Assimilation und Innovation. Wir imitieren solche, die die Sprache schon beherrschen, und finden durch unsere Versuche eine eigene Stimme. Sowohl im Jazz als auch im Gespräch kopieren wir die Soli der großen Meister (im Jazz: John Coltrane / in der Sprache: jede*r über 10). Wir eignen uns ihren Slang an und beginnen zu verstehen, was dahintersteckt. Und irgendwann zitieren wir sie quer durcheinander, manipulieren festgefahrene Mechanismen und üben uns in Harmonik, Dynamik, Timbre, Gefühl und Artikulation, bis wir auch die schwierigsten Gigs (in der Sprache: Bewerbungsgespräch / im Jazz: Weihnachtskonzert bei Oma) meistern.
Die Sprache, in der wir am Ende dieses Lernprozesses neue Ideen formulieren, basiert auf einem vielschichtigen Regelsystem, das alle, die diese Sprache fließend beherrschen, verinnerlicht haben. Sonst wären sowohl verbale als auch musikalische Kommunikation unmöglich. In einer Sprache ohne Regeln könnte man nichts von Bedeutung sagen.
Making musical sense
Im Gitarrenkoffer des großartigen Gitarristen Jim Hall klebte ein Zettel, der ihn täglich an sein Mantra erinnern sollte: „Make musical sense“.
Was bedeutet es, musikalisch „sense“ zu „maken“? Würden wir komplett willkürlich Tasten am Klavier weghämmern, würde das Resultat klingen wie ein leeres Geräusch, es hätte keine Bedeutung. Jetzt nur die weißen Tasten und plötzlich haben all die weggehämmerten Tasten etwas gemeinsam: Sie sind alle in C-Dur. Wir haben jetzt eine Tonart. Stampfen wir nun mit unserem Fuß diesen „1, 2, 3, 4,“-Takt aus all den Liedern und gleichen unser Geklimper diesem Rhythmus an: Schon ist unsere Musik im Takt.
Unsere Musik hat nun Tonart und Takt, „maket“ aber noch keinen „sense“. Also konzentrieren wir uns auf unser Spiel und öffnen unsere Ohren dem Klang, den unsere Finger da hervorbringen. Irgendwann werden wir etwas spielen, das uns anspringt. Wir werden uns denken: „Hey, das fand ich gut“.
JETZT haben wir etwas, das „sense maket“ (sorry, war jetzt das letzte Mal). Diese Töne, in dieser Reihenfolge, in diesem Rhythmus, haben etwas in uns ausgelöst. Wir haben zugehört und die Musik hat zu uns gesprochen: Etwas Wahres steckt darin, also etwas Echtes, das auch andere Leute in dieser Idee hören könnten.
Das heißt natürlich nicht, dass Musik nur Sinn ergibt, wenn sie im 4/4-Takt oder C-Dur oder in überhaupt irgendeinem Takt oder irgendeiner Tonart stattfindet. Es sollte lediglich ein willkürliches Beispiel dafür sein, wie wir „musical sense“ herstellen können. Wenn improvisierende oder komponierende Musiker*innen sich weiterentwickeln, entwickeln sie eine musikalische Sprache, mit der sie immer nuanciertere Emotionen immer feiner artikulieren können.
Pflicht und Improvisation
All das kann Improvisation Bedeutung verleihen. Noch wichtiger ist allerdings die größte Verantwortung des*der improvisierenden Musiker*in: das Zuhören.
Ich hatte Gespräche mit eloquenten und geistreichen Menschen, die so langweilig waren, dass ich einen Anruf vortäuschen musste, um mich zu verdünnisieren. Und ich hatte Gespräche mit Händen und Füßen, die mich tief berührt haben. Ich habe mit außerirdisch virtuosen Musiker*innen gespielt und nach 40 Sekunden schon das Ende herbeigesehnt. Und ich habe Musik mit Nicht-Musiker*innen (ein Begriff, den ich zögernd benutze) improvisiert, die so aufregend war, dass sich mein Verständnis von Zeit und Selbst in Luft aufgelöst hat.
Was die guten Gesprächspartner*innen von den schlechten unterschied, mehr noch als ihre Sprachkompetenz oder ihre Wortgewandtheit, war ihre Neugier und ihre Fähigkeit, zuzuhören. Darauf beruht jede improvisierte Interaktion. Erst wenn du zuhörst, kannst du Ideen beitragen, die eine Interaktion besonders machen, die ihr Bedeutung verleihen. Und was viele Musiker*innen zu selten beherzigen: Diese Idee kann auch ein Schweigen sein.
Jedes Mal, wenn du ein Stück Musik hörst, das du schön findest, hörst du etwas Wahres. Du hörst Wahrheit, weil du hingehört hast.
Übersetzung aus dem Englischen: Niklas Fucks