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„Ich bin Atheist, was will ich mit 'nem religiösen Zwang?“

Psychotherapeut Dr. Karsten Böhm im Interview über Zwangserkrankungen.

Wer unter einer Zwangserkrankung leidet, bringt Stunden mit Schlüssellöchern, Drehknöpfen oder dem Richten einer einzelnen Haarsträhne zu. Psychotherapeut Dr. Karsten Böhm im Gespräch darüber, wie Nebensächlichkeiten zum Lebensmittelpunkt werden.

Für Lai*innen: Was ist eine Zwangsstörung?

Zwangsstörung bezeichnet den Umstand, dass jemand aufgrund von Zwangsgedanken wie „Ich muss oder soll dieses tun“ zu einer Handlung getrieben wird. Das sind meistens Gedanken, die jede*r kennt, zum Beispiel: „Mensch, der Herd ist an!“ Der Unterschied liegt in der Intensität und darin, wie oft man an solche Dinge denken muss.

Wie fein ist die Linie zwischen Zwang und einem charmanten Spleen?

Aus wissenschaftlicher Sicht wird Handeln pathologisch, wenn es sich nicht mehr in einem Normalbereich bewegt. Ein Patient mit Zwangsgedanken hat einen Leidensdruck, er hat keine Wahl. Das ist der entscheidende Marker. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Sie sitzen in der Kirche. Plötzlich verspüren Sie den Impuls, laut „Gott ist tot“ zu schreien. Diese Vorstellung würden Sie im nächsten Moment möglicherweise total peinlich finden und den Gedanken schnell wieder vergessen, ihn als unsinnig abtun. Genau das können die Patient*innen nicht. Sie denken vielmehr, der Impuls sei gefährlich und könne etwas richtig Böses auslösen. Dadurch entsteht eine immense Anspannung. Der Betroffene schämt sich, fühlt sich schuldig und versucht dann, sich selbst zu helfen. Zum Beispiel durch extremes Kontrollverhalten. In der Pathologie nennt man dieses Verhalten eine Zwangshandlung.

Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Sie sitzen in der Kirche. Plötzlich verspüren Sie den Impuls, laut „Gott ist tot“ zu schreien.

Woher kommt dieser Druck?

Manche Patient*innen beschreiben das sehr treffend mit einen kleinen Kobold, der in ihrem Kopf sitzt und flüstert. Es ist kein Wahn, der von außen kommt, keine einfache Kausalkette vom Prinzip: „Ich muss mich waschen, sonst werde ich krank.“ Es ist ein Verlangen, das komplett sinnlos ist. Das erkennen die Betroffenen auch, sie können es aber trotzdem nicht stoppen.

Noch deutlicher wird es im klassischen Herd-Beispiel. Von außen betrachtet ist es völlig unwichtig, den Schalter 70-mal auf null zu drehen. Der Fokus scheint völlig verschoben ...

Zwanghaftes Verhalten konzentriert sich so intensiv auf ein winziges Detail, dass viele Handlungen, die für den Alltag wichtig wären, nicht mehr vollzogen werden können. Auf der einen Seite hat die Person den Schmutz auf ihren Händen stundenlang reduziert, dafür aber vergessen, die Tür abzuschließen, weil ihre Konzentration total auf einen anderen Bereich fokussiert war. Von außen betrachtet ist die Person also eigentlich gefährdeter als vorher, aber in dem Bereich, in dem es um den Zwang geht, hat sie das Risiko minimiert.

Die Gedanken werden also anders hierarchisiert.

Es gibt Zwänge und Zwangsgedanken, die sich absolut realistisch anfühlen. Zwei Stunden später kann das schon wieder ganz anders aussehen. Manche Patient*innen erleben ihr Handeln schon in der Situation rational als sinnlos, emotional aber als total belastend. Menschen reagieren viel eher auf eine Emotion als auf einen reinen Gedanken. Zum Glück sind wir emotional gesteuert. Von der positiven Seite her gedacht: In der Liebe wollen wir auch nicht immer den Partner, der rational gut ist für uns.

Fühlen sich die Betroffenen zumindest gut, wenn sie ihre sauberen Hände ansehen?

Leider nein. Die Patient*innen empfinden höchstens eine Stress-Reduktion, aber das Gefühl bleibt immer im negativen Bereich. Genau da liegt auch der Unterschied zwischen einer Zwangsstörung und einer zwanghaften Persönlichkeit. Personen mit einer zwanghaften Persönlichkeit verbringen eventuell auch sehr viele Stunden damit, eine ganz bestimmte Ordnung herzustellen, sie werden aber am Ende zufrieden in ihrer aufgeräumten Wohnung stehen. Sie stehen dann vor allem mit ihrer Umwelt in Konflikt, wenn zum Beispiel die Kinder nach Hause kommen und in die mühsam errichtete Ordnung eingreifen.

Ich habe eine kleine Bügeleisenparanoia und bin schon ein paar Mal panisch zurück in die Wohnung gelaufen. Könnte das ein Zwang werden, wenn ich mich dem Gefühl jedes Mal hingebe?

Einerseits benötigt es schon eine gewisse genetische Veranlagung, um eine Zwangsstörung zu bekommen. Wie viele psychische Störungen entwickeln sich Zwänge oft im jungen Erwachsenenalter zwischen 17 und 25. Je älter Sie werden, umso unwahrscheinlicher wird es, dass Sie noch einen Zwang entwickeln. Auf der anderen Seite ist es, wie Sie es beschreiben: Man kann sich in diese Zwänge hineinbegeben, wenn man ihnen zu viel Platz einräumt. Bedenklich wird es aber erst dann, wenn Sie zurückgehen und feststellen, dass Sie das Bügeleisen heute gar nicht benutzt haben.

Und warum das Bügeleisen?

Gibt es Traumata, die dahinterstehen? Manchmal sind es Kindheitserlebnisse, manchmal findet man diese Ursachen sehr leicht, manchmal sehr schwer und manchmal überhaupt nicht.

Wenn es so schwer ist, die Ursachen zu lokalisieren, wo kann überhaupt die Therapie ansetzen?

Die meisten Betroffenen kommen erst nach durchschnittlich sieben Jahren überhaupt in Behandlung, weil sie sich zu sehr schämen. Dann muss in der Therapie sehr mühsam wieder erlernt werden, was normales Verhalten ist. Dafür ist es wichtig zu verstehen, warum das scheinbar Irrelevante höchst relevant ist, denn nur indem etwas verstehbar wird, wird es auch überwindbar. Wenn ich das Gefühl habe, ich mache eigentlich et- was Unsinniges, dann habe ich als Mensch den Eindruck, ich mache etwas falsch — also bin ich überhaupt falsch. Das ist ein Gefühl, das hilflos und handlungsunfähig macht. Ziel einer Therapie ist es, sich am Ende gegen die Zwangshandlung entscheiden zu können. Dafür muss ich aber zuerst lernen, mich wieder ernst zu nehmen und zu spüren: Nicht unsere Gefühle sind falsch, sondern nur, was wir daraus manchmal für Schlussfolgerungen ziehen.

Ein Patient mit Zwangsgedanken hat einen Leidensdruck, er hat keine Wahl.

Am Anfang deuteten Sie an, dass die Gedanken strukturell die Form „ich muss“ oder „ich soll“ haben. Sind Zwangsstörungen eine Krankheit unserer Zeit, weil sie den Strukturen der Leistungsgesellschaft entspricht?

Zwangsstörungen gibt es schon immer und auch unabhängig von Kulturkreisen ähnlich häufig. Nur die Themen, die in den Zwängen verhandelt werden, sind unterschiedlich, und sie spiegeln das, was in der Gesellschaft gerade relevant ist. Anfang der 90er war der Fuchsbandwurm ein großes Thema. Als Aids in den 90ern als Krankheit sehr präsent war, gab es vermehrt Patient*innen mit Ängsten vor Aids. In einer religiösen Welt werden diese Gedanken präsenter sein und so weiter, während in einer nicht religiösen Gesellschaft der Mensch sagt: Ich bin Atheist, was will ich denn mit ’nem religiösen Zwang?