„Ich beabsichtige das gar nicht“
Mit Witz in Richtung Realität. Alexander Kluge spricht über das Humorvolle der Geschichte.
Herr Kluge, Sie beschäftigen sich mit Geschichte, Gesellschaft, Naturwissenschaft, Sie sind promovierter Jurist, das sind alles sehr ernste Themen.
Das kommt darauf an. Das sind ja alles Dinge, die aufeinander keine Rücksicht nehmen. Da entstehen Spannungen und Differenzen. Wenn diese Differenzen sehr auffällig und überraschend sind, dann empfindet man das als Witz. Alles, was grotesk oder paradox ist, empfinden wir als angenehm verwirrend, als einen Geisteskitzel.
Aber trotzdem wird in der Geschichtsschreibung oder in der Gesellschaftstheorie üblicherweise wenig gelacht.
Die Zeitgeschichte oder die Geschichte selber würde ich auch niemals als lustig bezeichnen, „grotesk“ wäre der bessere Ausdruck.
Also ist Witz eine Möglichkeit, mit Absurditäten umzugehen?
Ja, aber das hat mit Absicht nichts zu tun, mit Einstellung auch nicht. Stellen Sie sich vor, während eines Luftangriffs, während alle Angst haben, passiert etwas Unerwartetes, eine Klappe öffnet sich. Durch diese kleine Unstimmigkeit entsteht ein gemeinsames Lachen. Das reagiert auf eine Veränderung der Situation, das ist ganz spontan, das ist so wie atmen. Etwas in uns lacht in diesem Moment, das ist einfach eine Reaktion unseres Zwerchfells.
Als Beispiel für eine witzige Situation fällt Ihnen zuerst ein Luftangriff ein?
Ach, das war nur ein Erlebnis, bei dem ich gemerkt habe, dass die Menschen überhaupt nicht auf diese Situation reagieren, sondern von der Situation wegreagieren. Die Wahrnehmung vermeidet Dinge, die den Menschen in Gefahr bringen, so wie der Bombenkrieg. Das ist der Antirealismus des Gefühls. Dieser Antirealismus des Gefühls produziert gewissermaßen Abwehr von Wirklichkeit.
„Wir wollen zur Wirklichkeit hin, und wir wollen, wenn uns Wirklichkeit schädigt und Angst macht, von ihr weg.“
Im Witz fliehen wir aus der Wirklichkeit?
Auf der anderen Seite wollen wir natürlich auch immer zur Realität hin. Jedes Baby will die Kugel, die ihm vorgeführt wird, greifen. Wir wollen zur Wirklichkeit hin, und wir wollen, wenn uns Wirklichkeit schädigt und Angst macht, von ihr weg. Diese Gefühle können Sie nicht trennen. Das ist der Antagonismus des Gefühls. Das ist eine Revolte der menschlichen Empfindung gegen die Wirklichkeit. Hier liegt die Quelle des Witzes, das ist aber gleichzeitig auch sehr ernst.
Ist Ihre Art, Filme zu machen, eine Revolte gegen die Wirklichkeit?
Ich benutze, weil ich es vom Stummfilm her so kenne, sehr oft Schriften in Filmen. Schriften erzeugen Bilder, die im Alltag nicht geläufig sind. Die Schrift ist, verbunden mit wenigen Bildern, oft besser geeignet, eine Vorstellung im Zuschauer zu erzeugen, als wenn ich alles versuche zu bebildern und nachstelle.
Mit Helge Schneider und Peter Berling stellen Sie aber schon historische und zeitgenössische Personen nach.
Ja, aber wenn Helge Schneider einen Ziegenmelker in Spanien in voller Tracht mit Landschaft im Hintergrund spielt und dann über Melken redet, nimmt kein Mensch an, dass er wirklich Ziegenmelker ist. Er bleibt ja bei all dem Helge Schneider. Aber er schafft eine sehr schöne Differenz zwischen einem Mülheimer Geist [Helge Schneider stammt aus Mülheim an der Ruhr, Anm. d. R.], der grundsätzlich keine Witze macht und sehr konkret spricht, und der Vorstellung eines Ziegenmelkers in Spanien.
Das heißt, man muss eigentlich an den inszenierten Figuren vorbeischauen, um zum Beispiel den Ziegenmelker zu sehen.
So ist es richtig, und dann sieht man etwas, das nennt man Epiphanie. Man schaut durch das Sichtbare hindurch und am Ende steht das „reale“ (manchmal „unsichtbare“) Bild.
Ich denke da jetzt gerade an „Helge Schneider als der Roland von Stendal“. Erkennt man da hinter der ganzen Albernheit noch etwas, eine Figur oder die Geschichte?
Das war gar nicht spaßig gedacht. Wir haben nur verabredet: „Was spielst du?“ Und er sagt: „Roland von Stendal“, und da sage ich: „Na, das ist doch der Cousin von Asterix.“ Das ist die ganze Verabredung. Roland von Stendal ist doch müde, er spricht ganz langsam, das habe ich nicht verabredet mit ihm, das hat er einfach gemacht. Es gibt tausend Bilder: das schlafende Heer, Barbarossa und Gefolge im Kyffhäuser. Das Mittelalter wirkt auf uns schläfrig. Jetzt wacht er auf, beginnt schneller zu sprechen — das hat er sich so ausgedacht — und erzählt jetzt, dass er Scharfrichter ist. Sehen Sie die Metapher: Die Geschichte als Schlachtbank, das ist eine Formulierung von Hegel. Die kennt Helge Schneider nicht, aber in Mülheim kann man das ahnen, dass die Geschichte irgendwie als Henker tätig gewesen ist. Und jetzt kommt dieser Henker, den führt er durch die Geschichte im Galopp in die Gegenwart und dann schläft er am Ende wieder ein. Das ist am Ende eine Metapher, die würde einem literarisch gar nicht einfallen. Aber die hat er sich ausgedacht in diesem Moment. Da fällt sehr wenig Absichtlichkeit an, aber sehr viel Erfahrung. Zu der Erfahrung gehört nicht nur, was Helge Schneider selbst weiß und denkt, sondern auch, was seine Vorfahren gemacht haben, was seine Umgebung gemacht hat, was er irgendwo mal aufgeschnappt hat in einem Café; da ist sehr viel Lebendiges drin.
Ist Humor nicht notwendig, um diese Assoziationen zu wecken? Auch in Ihren Büchern überbrücken Sie groteske Brüche oft mit Witz.
Ich beabsichtige das gar nicht. Sondern ich schreibe im Halberstädter Dialekt, in Halberstädter Erzählweise, die ich verinnerlicht habe. Da stoßen immer Verhältnisse aufeinander und die produzieren Komik. Da brauche ich gar nicht viel zu tun. So würde es mein Vater erzählen, so würde unser Heizer erzählen, so würde unser Kindermädchen Magda erzählen. Das ist eine kollektive Erzählweise im mittel- und norddeutschen Raum, die auf den Erzählungen Till Eulenspiegels beruht. Ohne, dass uns das bewusst wäre. Und diese Erzählweise ist in Mülheim an der Ruhr die gleiche wie in Halberstadt. Nur in Mülheim an der Ruhr ist Helge Schneider derjenige, der sie anwendet.
… und damit zum Komiker wurde, also hauptberuflich Witzemacher.
Er ist ein Künstler, Musiker und Autor, kein Witzemacher. Er macht keinen einzigen Witz. Das Angenehme ist, Helge Schneider dabei zuzugucken, wie er Witze vermeidet. Er wird Ihnen jeden verweigern, und alle Witze, die Sie erwarten, vermasseln.
Aber ist nicht genau das Helge Schneiders Witz?
Genau. Mir ist nicht klar, wie man das nennen soll, denn er steht ja nicht über der Sache. Ich habe mal mit ihm eine Diskussion angefangen über die sieben Todsünden. Als wir zur Todsünde Wollust kamen, fragte ich ihn: „Was verstehst du unter Wollust?“, und er antwortet: „Pullover trage ich nur im Winter.“ So etwas wörtlich zu nehmen (sodass Wolle und Lust zusammengeraten), das ist etwas sehr Konkretes, sehr Poetisches. So ist das auch bei Till Eulenspiegel, der von einem hochmütigen Bürger gesagt bekommt: „Geh mir aus den Augen!“ Und er antwortet: „Wie soll ich dir aus den Augen gehen? Ich müsste ja durch die Nase hindurch. Wie soll ich dein Auge verlassen, solange du nicht tot bist?“ Das ist nicht sehr witzig. Er hat etwas ganz Ernsthaftes gesagt.
Das ist ein wehrhafter Humor, den gibt es auch.
Ja, ich bin ziemlich sicher, dass afrikanische Immigrant*innen, wenn sie in Lampedusa auf stolz aufgestellte Zollbeamt*innen der EU treffen, dass denen oft das Lachen kommt. Das drückt sich dann aber vielleicht anders aus.
Die Zollbeamt*innen hätten dann das souveräne Lachen und die Einwander*innen hätten dann das …
… das subversive. Aber Sie haben ganz recht, „wehrend“ können Sie auch sagen. Also, der Antirealismus des Gefühls. Ich wähle eine Realität, die mich nicht respektiert, ab, weil ich eine Realität, die mich nicht respektiert, nicht respektiere. Und das können Sie auf tausend Weisen ausdrücken. Aber die Beste ist, dass Sie in der Lücke, die die Wirklichkeit lässt, lachen. Dann ist die Wirklichkeit für einen Moment mal nicht allmächtig. Also schließe ich: Vielleicht bin ich doch nicht so ohnmächtig, wie ich dachte. Und das ist ein guter Witz.