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Die Verhältnisse platt schlagen

Niklas Luhmann findet Protest dumm, aber wichtig.

Ein Theorieschnipsel zu Niklas Luhmann.

Er muss es geahnt haben. Wahrscheinlich hat er es sogar gehofft. Mit diesen Zeilen würde er sie wieder zur Weißglut treiben: „Gegen Komplexität kann man nicht protestieren. Um protestieren zu können, muß man deshalb die Verhältnisse plattschlagen.”

Vom Krebs geschwächt, hat ihr Schreiber nichts von seiner Schärfe verloren. Immer wieder funkeln zwischen Seiten formaler soziologischer Beschreibungen provokante Verkürzungen auf. Sie sind so rar, dass schon die Hoffnung, darauf zu stoßen, den Leser an den Text fesselt. Niklas Luhmann war ein Bürokrat. Mit administrativer Distanziertheit formulierte er auch seine Großtheorie über die Gesellschaft. Nicht über eine, nicht unsere, sondern über die Weltgesellschaft. Bescheiden war Luhmann nicht. Trocken schon, aber auch gewitzt: Sein formaltheoretischer bis schaler Blick auf das menschliche Mit- und Gegeneinander gewinnt seinen besonderen Charme erst im Kontrast zur der hochpolitisierten Soziologie der Nachkriegszeit.

Luhmanns stoischer Ton ist oft mit konservativer Gleichgültigkeit verwechselt worden. Das ist nicht falsch, aber humorlos: Immer achtete er darauf, seinen fatalistischen Worten ein verschmitztes Lächeln mit auf den Weg zu geben. Vor dem revolutionären Pathos seiner Kollegen rettete er sich gerne mit zwei kurzen Sätzen von Kafka: „Es gibt Hoffnung. Nur nicht für uns.” Luhmann interessierte sich für die Gesellschaft, nicht für ihre Utopien. Protest basiere prinzipiell auf unterkomplexen Weltvorstellungen, sagt er — und meint: Demonstranten haben keine Ahnung. Ihre Wut generiere sich aus Kurzschlusserklärungen nach dem Prinzip: Die Griechen sind arm — also faul.

Luhmanns Pointe: Protest ist dumm. Das müsse er auch sein, um von allen Protestierenden verstanden zu werden. Zunehmende Individualisierung bringe ein weites Spektrum an persönlichen Motivationen zum Aufstand hervor. Die größten Schlachten um Demokratie und Gleichberechtigung sind geschlagen. Heute geht es um Einzel- und Auslaufposten der Ungerechtigkeit. Ob das Bafög knapp wird oder die Gema nervt, die Gründe zum Protest werden immer kleinteiliger. Größere Menschenmengen können nach Luhmann deshalb nur noch durch breit aufgestellte und selbsterklärende Themen zusammengehalten werden.

Als roter Faden im thematischen Flickenteppich dient deshalb gern die Ethik. Occupy fand vieles ungerecht — das hat verbunden. Die treibenden Motive des Protests bleiben traditionell: Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit. Ersetzt man Inhalte durch Werte, ergeben sich noch andere Vorteile: Wer ethische Gründe hat, braucht sich nicht durch demokratische Mehrheiten zu legitimieren, sondern ist praktischerweise stets auf der Seite der Gerechten. Diese Seite kann beliebig klein sein. Der RAF reichten sechs Personen, eine Maschinenpistole und der Glaube an die gerechte Sache, um die Republik in Atem zu halten.

Gehört man erstmal zu den Gerechten, dürfen die konkreten Themen des Protests auch gern wechseln. Luhmann meint, letztlich sei es die Aktion, das Protestieren selbst, die eine Gemeinschaft zusammenhielte. „Kommt herunter, reiht euch ein”, sangen die Leipziger im September 1989. Die Themen waren Grenzöffnung, Überwachungsstaat, freie Meinung und freie Wahlen. Die Botschaft war „Wir sind das Volk”. Nicht die Agenda bringt den politischen Erfolg, sondern die gemeinsame Identität.

Nirgends finden sich Identität und Sinn in so großer Fülle wie in der Auflehnung. Etwas schwierig zu identifizieren ist häufig die Gegenseite des Protests. Wogegen lehnt man sich als Verteidiger ethischer Grundsätze auf? Natürlich gegen Verantwortliche und Profiteure. Da gibt es allerdings viele. In einer Gesellschaft, die ihre Verantwortung so verteilt hat, dass sich ihr keiner mehr entziehen kann, richtet sich jede Demonstration auch gegen ihre eigenen Teilnehmer.

Mit Discountershirt und Wahlberechtigung ist man selbst schnell Teil des Problems. Als Konsument und Wähler hat man die Zustände, gegen die sich der Protest richtet, selbst mit hervorgebracht oder wenigstens getragen: Kinderarbeit, Staatsverschuldung, Auslandseinsatz. Soziale Protestbewegungen funktionierten, so Luhmann, nur, wenn sie sich selbst außerhalb der Verantwortlichkeit wähnen. Ihre pathetische Energie würde sonst von Selbstreflexionen absorbiert.

Doch das bleibt illusionär. Mit jedem Wort, jeder Interaktion bleibt man Teil des „Systems”, gegen das sich doch alle Wut richtet. Eine Paradoxie. Abgesehen von der aussterbenden Art des Emeriten kann sich kein Mensch glaubwürdig der Gesellschaft entziehen. Ersatzweise weichen Protestbewegungen an deren Rand aus, den „alternativen” Bereich. Hier ist es beschaulich. Man ist dagegen und damit unter sich: nicht verantwortlich, aber auch nicht allein.

Der Rand stellt sich dem Zentrum, einem „etablierten” Bereich entgegen, so Luhmann. Seit der Adel seine Landgüter geräumt hat, ist dieser Gegenpol des Protests jedoch nur noch schwer auf der Karte zu finden. Natürlich gibt es auch in einer Gesellschaft mit verteilter Verantwortlichkeit Konzentrationspunkte der Macht. Ein einheitliches Zentrum jedoch, dem sich exklusive Schuld zuweisen ließe, wird noch gesucht. Besonders findige Expert*innen meinen es im Pentagon zu entdecken, bei den Illuminaten oder vielleicht doch in einem heimlichen Kreis von Wirtschaftsbossen. Die Vorstellung jedoch, alle Fäden der Macht liefen an einem Ort zusammen, wo die Ungerechtigkeiten der Welt beschlossen würden, bleibt eine Illusion.

Sie werden rar, die Orte in sicherer Distanz zur gesellschaftlichen Verantwortung. Eigentlich stecken wir alle zu tief drin, um noch dagegen zu sein. Im fiktiven Konflikt zwischen etablierten und alternativen gesellschaftlichen Gruppen protestiert die Gesellschaft also eigentlich gegen sich selbst. Das klingt absurd. Ist aber nach Luhmann notwendig.

Er versteht die Gesellschaft als eine Art Organismus, der sich stetig an eine sich verändernde Umwelt anpassen muss. Gemeint ist nicht nur die physische Umwelt, die Natur, sondern auch die psychische Umwelt, die Menschen. Wenn Menschen ihre Bedürfnisse nicht mitteilen, finden sie keine Berücksichtigung durch die Gemeinschaft. Protest drückt ein geteiltes Unbehagen aus. In der öffentlichen Auflehnung macht die Gesellschaft sich auf ihre Umwelt aufmerksam: ihre Mitglieder — die Bedingungen, unter denen sie zustande kommt.

Deshalb richtet sich Protest auch nicht an die Mächtigen, denn die wissen auch ohne Liveberichterstattung, was die Menschen vor ihrem Balkon skandieren. Protest richtet sich an die ganze Gesellschaft. Er sucht nicht das Einsehen weniger Entscheidungsträger, sondern einen Sinneswandel. Alle sollen darauf aufmerksam gemacht werden, dass es wieder Zeit für Veränderung ist. Nicht einer muss sich anpassen, sondern die ganze Gemeinschaft. Im Protest wendet sich die Gesellschaft gegen sich selbst, um ihr eigenes Fortbestehen zu garantieren. Nur so kann sie dem stetigen Wandel individueller Bedürfnisse gerecht werden. Dazu muss der Aufstand nicht immer schlau sein. Manchmal nur laut.