Die Entzauberung der Welt
Max Weber weiß, dass wir nichts wissen.
Ein Theorieschnipsel zu Max Weber
Eigentlich war der Mann mit den wirren grauen Haaren und dem energischen Blick aus völlig anderem Anlass gekommen. Zudem scheint das Thema, mit dem sich der Soziologe Max Weber im November 1917 an eine Schar junger Frauen und Männer wendet, angesichts der weltpolitischen Lage etwas skurril. Ausgelassen doziert er über die Möglichkeiten der wissenschaftlichen Berufslaufbahn, während sein Publikum wohl vornehmlich die Sorge beschäftigt, nicht auf die letzten Kriegstage noch zur Front oder für die Waffenproduktion eingezogen zu werden.
Anders als die meisten Vorträge, die Weber in seinem Leben gehalten hat, versprach der schnöde Titel „Wissenschaft als Beruf“ nicht unbedingt Einzug in den Fußnotenapparat soziologischer Tausendseiter zu finden. Auch inhaltlich hatte Weber an diesem Morgen nicht mehr zu bieten als den Ratschlag, sich in seinem Fachgebiet zu spezialisieren, und das Bedauern über den Erfolg akademischer Mittelmäßigkeit — zeitlose Meinungen, aber keine großen Erkenntnisse.
Doch vier Wörter reichten Weber, um die Aufmerksamkeit seiner Leser*innen und mit ihnen ganzer Generationen von Soziolog*innen dennoch auf einen überraschenden Absatz seiner Rede zu ziehen: „die Entzauberung der Welt“. Säkularisierung und Rationalisierung gehörten auch 1917 längst zum Repertoire aller, die sich auch nur entfernt mit Gesellschaft auseinanderzusetzen gedachten. Dem Vortragenden ging es jedoch nicht um politische Transformation, sondern um eine Veränderung im abendländischen Denken.
Trotz Aufklärung und Schulbildung wüssten die Menschen des frühen 20. Jahrhunderts nicht wesentlich mehr über ihre Welt als etwa die Menschen des 2. Jahrhunderts, so Webers steile These. Im Gegenteil: Der technische Fortschritt hätte nur noch mehr fantastische Dinge geschaffen, die kaum noch jemand wirklich nachzuvollziehen wüsste. Selbst der engagierteste Nutzer des öffentlichen Schienennahverkehrs wüsste aus dem Stegreif wohl eher nicht zu erklären, wie „die Elektrische“ wohl genau zu ihrem Namen kommt. Der Unterschied zum „Wilden“ wäre lediglich, dass moderne Menschen glaubten, alles wissen zu können, wenn sie nur wollten.
Für alle Fragen gibt es einen Spezialisten, der die Antwort weiß oder sie zumindest herausfinden könnte. Deshalb seien wir, meint Weber, auch nicht mehr auf geheimnisvolle und unbestimmbare Mächte angewiesen, um unsere Welt zu beherrschen — sondern einzig auf das formale und logische Denken. Wer Land und Fluss genau vermessen und kartographieren kann, braucht nicht mehr mit der Wünschelrute nach Wasser zu suchen. Weber stellt fest: Wir brauchen die Welt nicht mehr zu verzaubern. Wir können sie berechnen.
Die Frage, was von einer solchen Entwicklung zu halten sei, war Weber keiner weiteren Worte würdig. Er verstand seine Ideen weniger als konkrete Gegenwartsdiagnosen, sondern eher als Mustermodelle für die Entwicklungen seiner Zeit. Er meinte weder, dass die Gesellschaft schon vollständig entzaubert und erklärt sei, noch, dass dieser Zustand jemals endgültig eintreten würde. Ihm ging es darum, eine Richtung zu weisen, ein Idealbild zu zeichnen, auf das alles zulaufe, ohne es endgültig erreichen zu können. Heute, 100 Jahre später, stellt sich die Frage, wie nahe wir Webers entzauberter Gesellschaft inzwischen gekommen sind: Das Wissen über unsere Welt hat in dieser Zeit stetig zugenommen. Ebenso haben sich jedoch auch die offenen Fragen vermehrt — vielleicht sogar etwas schneller.